Biedermann und die Brandstifter revisited. Strukturwandel sozialer Solidarität und Grenzüberschreitungen

Wohlfahrtssysteme beruhen auf Solidarität und gemeinsam geteilten Gerechtigkeitsstandards. Klar wandeln sich soziale Sicherungssysteme im Zeitablauf von Jahrzehnten, unter dem Einfluss internationaler Wirtschaftsverflechtung und dem Druck eines global opierierenden Finanzmarktkapitalismus. Logischerweise kommt es da zu Verteilungskonflikten, besonders in Wahlkampfzeiten. Doch wenn die Lunte mal so richtig brennt, schießt rasch mal der eine oder die andere über’s Ziel hinaus und verlässt Wertstandards, also Errungenschaften der Moderne, die man nicht unbedacht in den Ausguss kippt. Wie im letzten Beitrag „Hartz IV – Überhitzte Mediendebatte und Wohlfahrtswirklichkeit“ beobachte ich das in der aktuellen Diskussion um Hartz IV, dem hässlichen Getöse zum Wahlkampfauftakt. Till Westermayer hat mich auf einen Aufsatz von Prof. Dr. Friedrich Thießen und Dipl.-Kfm. Christian Fischer mit dem Titel „Die Höhe der sozialen Mindestsicherung Eine Neuberechnung „bottom up““ (Abstract) aufmerksam gemacht, erschienen in Heft 2, 2008 der „Zeitschrift für Wirtschaftspolitik„. Dieser Aufsatz kann als betriebswirtschaftliche Legitimation einer Reduzierung der Hartz-IV-Regeläsätze von derzeit € 347 auf € 132 verstanden werden und ist dergestalt auch von der taz, dem SPIEGEL und dem Innovationsreport kommuziert und inzwischen sogar mit einer scharfen Reaktion von Angela Merkel in der WELT beantwortet worden. [Weitere Berichte: Reuters, Telepolis, WELT1, WELT2, FAZ, RP Online, SZ1; SZ2; WAZ, Augsburger Allgemeine; Express, Berliner Kurier, Informationsdienst Wissenschaft].

Gerechtigkeitsfundamentals und Hartz IV

Der Hartzgesetzgebung ging ein sozialpolitischer Diskurs voraus, in dem vier Gerechtigkeitsstandards besonderes Gewicht haben. Ich orientiere mich hier an Lutz Leiserings Aufsatz „Paradigmen sozialer Gerechtigkeit. Normative Diskurse zum Umbau des Sozialstaats“ (In: Liebig/Lengfeld/Mau, 2004, S. 29-68). (1) Bedarfsgerechtigkeit („Wer bedürftig ist, dem soll geholfen werden“). Der Bedarf bemisst sich an sozialer Zuschreibung, die nach staatlich festgelegten Bedarfen festgelegt werden sollen. (2) Leistungsgerechtigkeit („Wer hart arbeitet und mehr verdient, soll besser leben, Leistung soll sich lohnen“). (3) Produktivistische Gerechtigkeit („Hohe Produktivität und wirtschaftliche Leistungskraft ist ein Kollektivgut“) bedeutet, dass ein gewisses Maß an Ungleichheit, etwa Ungleichheit am Markt, gerecht ist, wenn sie zur Wohlfahrt aller beiträgt. Ein funktionalistisches Argument. (4) Teilhabegerechtigkeit  („An Wohlstand und Wachstum sollen alle teilhaben.“) bedeutet, dass alle sozialen Gruppen, auch Benachteiligte und Ausgegrenzte, Teilhabeansprüche geltend machen können. Soziologen nennen das Inklusion. Den Gerechtigkeitsstandards liegen allgemeine Wertmaßstäbe zugrunde: Der Wertstandard der Bedarfsgerechtigkeit ist die Menschenwürde. Ihr Adressat ist der Arme, dem es zu helfen gilt. Referenzsystem der Bedarfsgerechtigkeit ist der Sozialstaat. Der Wertstandard der Leistungsgechtigkeit ist die Leistung. Traditionell bezieht sich Leistung auf Markterfolg und einen sozial anerkannten Verdienst, der monetär vergütet wird. In den letzten Jahren wird der Begriff jedoch enger als „individuelle reproduktive Leistung“ verwendet. Ihre Adressaten sind gesellschaftliche Eliten, oder allgemeiner: Erwerbstätige. Referenzsystem der Leistungsgerechtigkeit sind Märkte und Sozialversicherungen. Der Wertmaßstab der produktivistischen Gerechtigkeit das Gesamtwohl. Ihr Adressat ist die Gesamtbevölkerung, deren Wohlstand es zu maximieren gilt. Der Wertmaßstab der Teilhabegerechtigkeit beinhaltet die Forderung nach Teilhabe aller Personen und Gruppen an diesem Wohlstand – kein Individuum, keine Gruppe darf vom Wohlstand ausgeschlossen werden. Die Adressaten der Teilhabegerechtigkeit sind Familien, Frauen, Benachteiligte, Ausgegrenzte. Das Referenzsystem ist die gesellschaftliche Gemeinschaft. Die Sozialstaatsmodelle sind unterschiedlich auf die Gerechtigkeitsstandards bezogen: Im „versorgenden Sozialstaat“ wird ein Wertkompromiss zwischen Bedarfsgerechtigkeit einerseits und Leistungsgerechtigkeit andererseits angestrebt. Umverteilung gilt als legitim. Der „residuale Wohlfahrtsstaat“ betont Leistungsgerechtigkeit. Hier ist jedem anzuraten, sich gut zu versichern und selbst für Alter und Krankheit vorzusorgen. Mit dem Produktionsmodell der Gerechtigkeit korrespondiert ein „negativ-aktivierender Sozialstaat“ in Kombination mit einem residualen Wohlfahrtsstaat. Wer Transferleistungen erhält, soll leiden, damit Anreize für wirtschaftliche Beteiligung bestehen. Teilhabegerechtigkeit schließlich findet ihr Pendant in einem aktiv-aktivierenden Staat, der der Empfängern von Transferleistungen durch unterstützende Dienste und Transfers positive Anreize für Investitionen in ihre Erwerbsfähigkeit setzt statt nur Anreize, Kontrollen und Repression zu wirken wie der negativ-aktivierende Sozialstaat. Der „sozialinvestive Staat“ zielt darauf ab, durch weitsichtige Familien- und Bildungspolitik das „Humankapital“ von morgen zu schaffen und für den internationalen Wettbewerb in Position zu bringen: breite Erwerbsbeteiligung auf hohem Niveau als Resultat guter beruflicher Qualifikationen sind die Brücke für den Wohlstand von morgen. Der „regulierende Sozialstaat“ entfernt sich am weitesten vom Sozialstaat, der umverteilt. Er beschränkt sich auf eine Kontextsteuerung für die nicht-staatliche Wohlfahrtsproduktion, d.h. er gewährleistet private Vorsorgemärkte (z.B. Markt für private Versicherungen). Der Einzelne soll „riestern“ und privat vorsorgen, um bei Alter und Krankheit nicht auf der Strecke zu bleiben.

Hartz weist Wertbezüge zu allen vier Gerechtigkeitsstandards auf. Auch beinhaltet Hartz Elemente aller vier Gerechtigkeitsstandards. Doch die Verschiebung der Gewichte ist offenkundig: Mit dem Regelsatz von € 347 ist die Bedarfsgerechtigkeit deutlich zurück geschraubt worden. Leistungsgerechtigkeit hat eine erhebliche Aufwertung erfahren, zumindest für Normalverdiener in Vollbeschäftigung. Für Hartz IV Bezieher gelten Freibeträge für selbst verdientes Geld. Was darüber hinaus geht, wird einbehalten. Der negativ-aktivierende Staat schlägt sich in der Programmatik der „Reaktivierung“ und Sanktionen für nicht wünschenswertes Verhalten der Empfänger von Transferleistungen nieder. Produktivisitische Gerechtigkeit wird stärker betont, ja sogar als Job-Wunderwaffe (Niedriglohnsektor) und Allheilmittel gegen massenhafte Erwerbslosigkeit gepriesen. Kritischer Punkt bleibt die Teilhabegerechtigkeit, weil ohne Familie, Kinder, Bildung, Umwelt etc. heute ein Wohlstand von morgen logischerweise nicht realisierbar ist. Außerdem sind soziale Partizipation und Investition in „Arbeits- und Beschäftigungsfähigkeit“ zwei Seiten ein- und derselben Medaille. Immerhin definiert ja aktivierende Arbeitsmarktpolitik den Empfänger der Transferleistungen zum Ich-Unternehmer der individuellen Arbeitsfähigkeit. Wir stellen also fest, dass sich soziale Mindestsicherung nach der Hartzgesetzgebung bereits in deutlicher Entfernung zum redistributiven Sozialstaat befindet.

Kritik einer wirtschaftspolitischen Studie

Prof. Dr. Friedrich Thießen und Dipl.-Kfm. Christian Fischer von der TU Chemnitz nehmen die in der Bevölkerung verbreitete Kritik am Regelsatz von Hartz IV zum Anlass für eine Neuberechnung des Basisbedarfs für eine soziale Mindestsicherung. Als Grundlage für ihre Berechnung stellen sie einen eigenen Warenkorb zusammen, der, so die Autoren, die „Teilhabe an üblichen Alltagsvollzügen“ gewährleisten soll. Als Wertlegitimation für ihren Warenkorb und für ihre Berechnungen beziehen sich Thießen und Fischer auf die Zielsetzungen der Sozialgesetzgebung, dem Menschen ein Leben in Würde zu emöglichen und „Hilfsbedürftigen die Befähigung zu vermitteln, wieder aus eigener Kraft und damit unabhängig von Sozialhilfe leben zu können„. (S. 6; 8).

Im Folgenden werde ich die den Autoren eingeführten Prämissen und Schlussfolgerungen ohne Blick auf die nachträglich dem Aufsatz voran gestellte Präambel diskutieren, da unterstellt werden darf, dass den Autoren bewusst war, welche Konsequenzen sie vorschlagen, wenn sie in ihrem Punkt Schlussfolgerungen schreiben, dass man den „mit der sozialen Mindestsicherung verfolgten Zielkanon zu überdenken“ (S. 31) publiziert haben und erwartet werden darf, dass sie sich den folgenden Kritikpunkten stellen:

  1. Ausgangspunkt ist der ökonomisch rational handelnde Akteur. Damit ist gemeint, dass der Verbraucher das jeweils günstigste Produkt verwendet. Weiter wird die Annahme zugrunde gelegt, dass der Verbraucher keine Ressourcen vergeudet, also keine Lebensmittel wegwirft etc. Vom Modell des Homo Oeconomicus ohne Informations- und Wegekosten auszugehen, das in der Ökonomie längst etablierte Argument der begrenzt rationalen Entscheidung zu ignorieren und nicht einfach vom vom empirisch gemessenen ökonomischen Handeln normaler Menschen auszugehen, ist realitätsfern und in höchstem Maß kritikwürdig.
  2. Zweitens legen Thießen und Fischer die Preise der jeweils billigsten Anbieter  zugrunde und nahmen ihre Preisermittlung an wenigen, nur punktuell ausgewählten Geschäften in Chemnitz vor. Nicht nur sind die Preise in Hamburg, München, Stuttgart, Düsseldorf, Köln oder Freiburg erheblich höher als in Chemnitz. Selbst bei Zugrundelegung der jeweils günstigsten Anbieter in Chemnitz haben die Verfasser die Beschaffungslogistik, zeit- und entfernungsabhängiger Optimierung und deren Kosten außer Acht gelassen, z.B. ständige Marktbeobachtung per Internet und sonstige Publikationsüberwachung in Print, Rundfunk und Fernsehen. Ebenso werden Transportkosten der Ware, und sei es mit öffentlichen Verkehrsmitteln, ignoriert. Die Verfasser gehen wohl davon aus, dass die erwähnten Einzelhändler Aldi, Kaufhof, Kaufland etc. alle in 600-800 Metern Entfernung liegen. Dies entspräche einer nicht unerheblichen Lagerente, die bei Dorf- oder Stadtrandbewohnern in Anrechnung gebracht werden müsste. Auch die höheren Transportkosten für ältere Mitbürger, denen erheblichen körperlichen Belastungen nicht zugemutet werden können, bleiben unberücksichtigt. Es zeigt sich somit, dass die Studie nur einen Teil der kostenrelevanten Faktoren berücksichtigt. Daher ist sie irreführend und im Ergebnis falsch.
  3. Drittens erfolgte Preisermittlung in der Stadt Chemnitz zwischen dem 11. und 15. Mai 2006. Durch diese Beschränkung auf nur einen einzigen Erhebungszeitpunkt ignorieren die Autoren den Tatbestand der Inflation. Nach Destatis-Informationen erreichte die Inflation aber im Sommer 2008 einen 15-Jahres-Höchststand (3,3 Prozent). Konsumenten im unteren Bevölkerungssegment sind in besonderem Maß von Gütern abhängig, die einer besonders starken Inflation unterliegen: Die Preise für Nahrungsmittel sind im vergangenen Jahr um 5,9 Prozent gestiegen, Mieten, Wasser, Strom, Gas und andere Brennstoffe um 4,9 Prozent, Verkehr um 6,9 Prozent, Bildungswesen um 26,9 Prozent (Destatis; auf den mit Bildung eng zusammenhängenden Punkt Arbeitsfähigkeit wird später noch einzugehen sein). Deshalb sind Bürger im unteren Drittel des verfügbaren Monatseinkommens mindestens doppelt so stark von Inflation betroffen wie das arithmetische Mittel. Tolle Ökonomen, die einen Preisindex errechnen, bei dem Inflation unberücksichtigt bleibt.
  4. Viertens gehen Thießen und Fischer vom Fallbeispiel eines gesunden deutschen Mannes mit deutschen Verbrauchsgewohnheiten aus. Der Beispielmann ist im mittleren Alter (18-65 Jahre), wiegt 70 Kilo, hat keine Behinderung und sonstige gesundheitliche Einschränkung, benötigt also auch keine Medikamente. Zudem lebt er in einem 1 Personen-Haushalt, ist unverheiratet und kinderlos. Folglich entfallen Kosten für Ehe und Partnerschaft, Familie und Kinder. Ebensowenig soll den Empfängern von Transferleistungen die Pflege von Hobbies Interessen, sozialen Kontakte oder Ernährungsvorlieben ermöglicht werden. Nun sind Ehe und Familie durch das Grundgesetz besonders geschützt und werden in der Sozialgesetzgebung berücksichtigt. Tatsächlich ist der einzelne Verbraucher nicht bindungsarm; und aus seinen vielfältigen soziale Bindungen ergeben sich sehr spezifische individuelle Bedarfe. Mit dem Untersuchungsdesign des isolierten, atomisierten Beispielmanns verabschieden sich die Verfasser von den Vorgaben auch der Hartzgesetzgebung. Speziell Ehe und Ehe und Familie sind als Institutionen im Grundgesetz (Art 6 GG) verankert und geschützt. An der Bedeutung des Sozialen kommt man eben nicht vorbei.
  5. Fünftens greifen die Autoren bei der Zusammenstellung ihres Warenkorbs auf selbst definiertes Set von Zielen (verwiesen wird auf ein unveröffentlichtes Manuskript des Ko-Autors Fischer) zurück. Dieses Zielset geht von einer Obergrenze und von einer Untergrenze der Verbrauchsmengen aus. Die Obergrenze orientiert sich an den Verbrauchsmengen nicht sozialhilfeabhängiger Bürger (wie haben sie die festgestellt?), die Untergrenze soll nicht mehr sichern als das physische Überleben. Die von Thießen und Fischer getroffene Auswahl ist willkürlich. Der mit der Unterscheidung von Ober- und Untergrenze zum Ausdruck gebrachte Anspruch der Autoren, zu definieren, welche Güter und Dienste ein Empfänger von Transferleistungen legitimerweise wünschen darf, ist anmaßend. Zudem begeben sich die Autoren in offenen Widerspruch zur Sozialgesetzgebung nach Hartz IV, die explizit mehr beinhaltet als bloße Überlebenssicherung.
  6. Dem Beispielmann sollen dem Mindestbedarf folgend 9 kg Brot, 9 kg Kartoffeln, 10 kg Obst, 10 kg Gemüse, 7,5 l Milch, 1,8 kg Käse, 1,6 kg Fleisch, 1,8 kg Wurst, 1,3 kg Fisch und 1,2 kg Fett pro Monat zugestanden werden, jedoch keine Gewürze, keine Süßigkeiten, kein Kaffee. Eine ausgewogene Ernährung, die langfristig gesund erhält und bis zu einem gewissen Grade auch Genuss beinhaltet, ist nicht vorgesehen. Es folgen Postulate darüber, welches Mobiliar, Körperpflege, Bekeidung, Verkehrsmittel und Kommunikation dem Sozialhilfeempfänger zugestanden werden sollen. Die Stadtbibliothek soll das kostenlose Internet mitliefern. Ein eigener Telefonanschluss, Fernsehen mit Kabelanschluss, geschweige denn ein Mobiltelefon sind nicht vorgesehen. An Briefpapier und Briefmarken ist wohl nicht gedacht worden. Eine Kategorie Arbeitsmittel suchen wir vergeblich. Nicht einmal Stifte kommen in der Auflistung vor. Auch hier stehen die Verfasser im Widerpruch zu den Vorgaben der Hartzgesetzgebung, da der Arbeitsuchende als Ich-Unternehmer der eigenen Arbeitsfähigkeit gehalten ist, in seine Erwerbsfähigkeit zu investieren. Kommunikationsmittel sind Arbeitsmittel. Bildung ist eine Investition in die eigene Erwerbsfähigkeit. Die Informations-, Wissens-, Medien- und Kommunikationsgesellschaft und ihre Relevanz für die Erwerbsfähigkeit scheint spurlos an Thießen und Fischer vorbei gegangen zu sein. Und an der Verpflichtung der Bezieher von Transferleistungen auf Initiative zur Beteiligung am Erwerbsleben und überhaupt an ihrer Arbeitsfähigkeit zeigen sich die Autoren uninteressiert.
  7. [Update 11.09.08 – Ergänzung] Budgetdisziplin: Nehmen wir an, Mütterchen Mü, das weibliche Pendant zum Beispielmann mit geschätztem Gewicht von 42 Kilo, hat einen Sack Kartoffeln gekauft. 24 Stunden nach dem Erwerb ist der Kartoffelpreis um 50 Prozent gefallen. Nun kann sie aber gar nicht die günstigen Kartoffeln kaufen, weil sie ja ihr Budget für bereits für die teureren Kartoffeln verwendet hat, und mehr gibt ihr Budget nicht her. *Unsicherheit auf Märkten!!*
  8. Grundkenntnisse der soziologische Gerechtigkeitsforschung sind ausreichend, um den Nachweis zu führen, dass die von Thießen und Fischer unterbreiteten Vorschläge Leistungsgereichtigkeit und produktivistische Gerechtigkeit absolut setzen und ein neues Minimum für Bedarfs- und Teilhabegerechtigkeit zu definieren versuchen. Damit wäre der Aufsatz ja „nur“ freche eine Absage an den sozialen Frieden. Da die Gerechtigkeitsstandards Interdependenzen aufweisen, würden sich Thießen und Fischer schon damit in ihrer Argumenation verstricken.
  9. Gravierender ist jedoch, dass die Verfasser selbst den Begriff der Würde strapazieren, der durch das Grundgesetz als unverletzliches und unveräußerliches Recht des Individuums geschützt ist (Art 1, GG). Daraus folgen die weiteren Grundrechte: das Recht auf freie Persönlichkeitsentfaltung, Leben und körperliche Unversehrtheit (Art 2, GG), Glaubens- und Meinungs- und Informationsfreiheit (Art 4, 5, GG), Versammlungsfreiheit und Freizügigkeit im gesamten Bundesgebiet (Art 8, 11, GG), Vereinigungsfreiheit (Art 9 GG), freie Wahl von Beruf, Arbeitsplatz und Ausbildungsstätte (Art 12, GG), Wohnung, Eigentum und Erbe (Art 13 und 14). Die von Thießen und Fischer unterbreiteten Vorschläge laufen auf eine de facto Einschränkung der Grundrechte hinaus, und mit der Unterscheidung von Ober- und Untergrenze der Verbrauchsmengen machen sie dies explizit. Zwei Beispiele: Entfallen Gaststättenbesuche, haben sich fast alle Mitgliedschaften in Vereinen, Parteien und NGOs erledigt, da sich viele Vereine ihre Mitgliedsversammlungen in Gaststätten abhalten und Gastwirte normalerweise nicht tolerieren, dass Gäste keine oder mitgebrachte Getränke und Nahrungsmittel verzehren – eine de facto Einschränkung der Versammlungsfreiheit. Eine Bewerbung setzt Internetnetrecherche  zum Auffinden von Stelleninseraten voraus – da möchte sich der Empfänger von Transferleistungen bitte in der öffentlichen Bibliothek mit etwa 5,3 Millionen anderen Menschen im erwerbsfähigen Alter anstellen und seine Bewerbung ohne Arbeitsmittel versuchen! Nie zuvor bin ich auf einen Aufsatz gestoßen, der Wissenschaftlichkeit für sich beansprucht und sich so offen gegen Recht und Gesetz und die sie tragenden Werte und Institutionen stellt.

Nach Destatis-Informationen lebten Ende des Jahres 2006 circa 8,3 Millionen Menschen (10,1 Prozent der Bevölkerung) von einer sozialen Mindestsicherung. Dazu gehören Sozialhilfe nach SGB II, Grundsicherung für Arbeitsuchende nach SGB II, Asylbewerberleistungen und Kriegsopferfürsorge. 7,6 Millionen Menschen bezogen Arbeislosenhilfe und Grundsicherung (Hartz IV). Für den Jahresverlauf 2006 weist die Statistik eine Belastung der Sozialsysteme mit € 45,6 Milliarden aus (FAZ, Destatis). Weiter bleibt der Hinweis auf die BA und ARGEn, die ein beachtliches Repertoire an Sanktionen bereit halten, etwa wenn Bezieher der Sozialleistungen ihren Zahlungsverpflichtungen nicht nachkommen oder den Erwartungen im Hinblick auf das Bemühen um Erwerbsbeteiligung nicht entsprechen: Einstellung der Zahlung nach Kontopfändung, Zwangsumzüge bei zu hohen Wohnkosten, Kürzung oder Einbehaltung der Transferleistungen, Bestrafung bei Missbrauch. Auf die mit Armut einhergehende Problematik der Verschuldung wird in der Hartz IV Praxis keine Rücksicht genommen, obgleich den Menschen nur selten ein „Management“ ihres individuellen sozialen Abstiegs ohne Verschuldung gelingt. Kein Wunder, dass die Menschen auch bei einem Regelsatz von € 347 bei den Sozialgerichten massenhaft gegen die von BA und ARGEn ausgeübte Praxis klagen. Die Kosten für die anschwellende Flut der Verfahren bei den Sozialgerichten (Sozialrichter, Verwaltung, Prozesskostenbeihilfe) taucht in der Statistik für die Kosten des Sozialsystem nicht auf, da Destatis diese Kosten unter „Rechtspflege“ abhandelt. Sie müssten als Folgekosten in die Rechnung mit einbezogen werden. Dann träte offen zutage, dass eine von den Betroffenen als vielfach illegitim empfundene und in vielen Einzelfällen illegale Praxis der BA und der ARGEn im Zusammenhang mit Hartz IV sehr viel teurer ist als in der öffentlichen Diskussion dargestellt wird.

UPDATE 09.09.08: Gerade merke ich, dass der Artikel, den ich am 06.09.08 vom Server der TU Chemnitz abgerufen habe, von dieser Stelle entfernt worden ist. Der Google-Cache findet den Aufsatz noch hier. Seit heute ist diese Stellungnahme des Dekans online.

9 Antworten zu “Biedermann und die Brandstifter revisited. Strukturwandel sozialer Solidarität und Grenzüberschreitungen

  1. Sehr schön fundierte Auseinandersetzung mit Thießen/Fischer! Würde mich ja interessieren, was die Zeitschrift für Wirtschaftspolitik sagt, wenn das (mit den hier nur implizierten Literaturangaben) als Manuskript dort eingereicht würde …

  2. Habe Link von Till Westermayer zur verschwunden geglaubten Originalstudie übernommen. Internet verliert nichts. Erneuter Dank.

  3. Was für ein Hin- und Her: Jetzt ist der Aufsatz wieder auf dem Server der TU Chemnitz zu finden, die Stellungnahme des Dekans der Fakultät steht aber ebenfalls weiterhin online.

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  7. Sozlog dankt vielmals dem Wissenschaftscafé von Marc Scheloske, dem Fischblog von Lars Fischer, die die Idee für eine Auswahl der besten wissenschaftlichen Blog-Beiträge eines Jahres über alle Fachdisziplinen hatten, und der Jury, die diesen Beitrag unter 80 Vorschlägen unter die besten 15 wissenschaftlichen Blog-Beiträge des Jahres 2008 gewählt hat.

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  9. Da fragt man sich beim lesen ja schon, ob man nicht irgendwie auf den Kopf gefallen ist.
    Nikolaus Köln

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