Schlagwort-Archive: Ungleichheit

Das Urteil zu Hartz IV – Plädoyer für ein familien- und kindgerechtes Sozialgesetzbuch

Es ist schon eine Ohrfeige für den Gesetzgeber, was das Bundesverfassungsgericht am 09.02.2010 geurteilt hat: Die Regelsätze in Hartz IV sind verfassungswidrig und müssen bis Ende 2010 neu berechnet werden. Das bezieht sich sowohl auf die Regelsätze für Erwachsene als auch für Kinder. Bezieher von Transferleistungen in SGB II können bisher praktisch keine Sonderbedarfe geltend machen, sodass sich unvorhersehbare Kosten oder Bedarfe außer der Reihe für sie vielfach katastrophal auswirken – dies muss der Gesetzgeber jetzt ändern. Außerdem muss der Gesetzgeber die existenznotwendigen Aufwendungen hilfsbedürftiger Erwachsenen und Kindern endlich realistisch und für die Öffentlichkeit nachvollziehbar bemessen und neue Regelsätze in einem transparenten Verfahren berechnen [ZDF-Video, Pressemitteilung, Gerichtsurteil]. Weiterlesen

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Soziale Ungleichheit nach Ländern

Visual Economics hat eine schöne Übersicht zur Einkommensverteilung im internationalen Vergleich.

Die Lorenzkurve wird verwendet, um anzuzeigen, welche Bevölkerungsanteile für das Einkommen einer Gesellschaft verantwortlich sind und welche Anteile nur geringe Einkommen erzielen. Je näher die Lorenzkurve einer geraden Linie im 45-Grad Winkel kommt, desto gleichmäßiger ist das Einkommen in einer Bevölkerung verteilt, je stärker die Kurve gewölbt ist, desto stärker ist die Einkommensungleichheit in einer Bevölkerung ausgeprägt. Wenn man den Bereich oberhalb und unterhalb der Kurve aufteilt, erhält man den Gini-Koeffizienten. Je geringer der Gini-Koeffizent, desto gleichmäßiger ist das Einkommen in einer Bevölkerung verteilt. Schweden weist mit 0,23 den geringsten Gini-Koeffizienten im internationalen Vergleich auf.  Da fragt man sich, weshalb Deutschland trotz Wirtschaftskrise so ausgeglichen aussieht. Weiterlesen

Tagung: Ökonomie des Konsums – der Konsum in der Ökonomie

Hühner

"10 Eier XXL to Go" - "Macht € 2,28"

So sehen sie aus, die Lieferantinnen meines gepflegten Frühstückseis. Die Eier schmecken  vorzüglich und sind zu akzeptablen Preisen zu haben. Trotzdem  kommt einem schon mal der eine oder andere Gedanke, was die Tiere da für ein Hühnerleben führen, und ob man  andererseits bereit  wäre, beliebige Preise für’s Frühstücksei zu zahlen. Wer sich als Kunde einredet,  mit den industriellen Verhältnissen nichts zu tun zu haben, in denen unsere Nahrungsmittel produziert werden, belügt sich selbst . Die Erkenntnis, dass es Konsum es unsere Wirtschaft und unseren Wohlstand nicht gebe, ist seit Adam Smith bekannt und doch würde man man sie manchmal gern leugnen. In der deutschen Wirtschaftssoziologie findet die Konsumseite des Wirtschaftsgeschehens bisher wenig Beachtung, weil der Blick vor vorranging auf die Seite der Produktion gerichtet ist. Allerdings zeichnet sich eine stärkere Berücksichtigung von Wirtschaft, Kultur und Lebensstilen ab. In der Konsumsoziologie ist die Dichtomie von Konsumverhaltensforschung einerseits und Konsumkritik andererseits passé. Konsum wird umfassend als Schnittpunkt von (Markt-)Wirtschaft, (Alltags-)Kultur und den feinen Unterschieden sozialer Ungleichheit untersucht.

Fragen wie diesen wird eine gemeinsame Jahrestagung der Sektion Wirtschaftssoziologie und der AG Konsumsoziologie der DGS in am 06./07.11.09 in Berlin (Harnackhaus der Max-Planck-Gesellschaft) nachgehen.  Thema: Die Ökonomie des Konsums – der Konsum in der Ökonomie. Weiterlesen

Wahlkampf, bitte!

Wie ließe sich das Jahr 2009 hoffnungsvoller beginnen, als mit einer zuversichtlichen und motivierenden Ansprache der Bundeskanzlerin? Wie schon in vergangenen Jahren setzt Angela Merkel Maßstäbe an Authentizität und politischer Aufrichtigkeit. So ist ihre Neujahrsansprache für viele zum Fixpunkt des alljährlichen Sylvesterrituals geworden. Auch von der globalen Finanzmarktkrise hat Frau Bundeskanzlerin Merkel schon gehört. Jedenfalls geht sie explizit darauf ein:

„Denn die weltweite Krise berührt auch Deutschland. Finanzielle Exzesse ohne soziales Verantwortungsbewusstsein, das Verlieren von Maß und Mitte mancher Banker und Manager – wahrlich nicht aller, aber mancher – das hat die Welt in diese Krise geführt. Die Welt hat über ihre Verhältnisse gelebt. (…) Deshalb steht für mich auch im kommenden Jahr an erster Stelle, Arbeitsplätze zu erhalten und zu schaffen. Gerade hier ist Deutschland in den vergangenen drei Jahren gut vorangekommen. Es gibt heute mehr Erwerbstätige als je zuvor.“ [Vollständige Rede]

Dass Max Weber seine düstere Vision von Bürokratie als der allumfassendsten, unentrinnbaren und sämtliche Lebensbereiche der Menschen durchdringenden Verwaltungsherrschaft ausgerechnet in Deutschland entworfen hat, wundert nicht wirklich. Man könnte meinen, Weber habe an die Regulierungswut der amtierenden Großen Koalition unter Kanzlerin Merkel und das Regime des New Public Management gedacht. Andere werden ein längeres politisches Gedächtnis haben, aber mir fällt keine andere Regierung ein, die so konsequent den korporativen Kapitalismus zugunsten des globalen Finanzmarktkapitalismus ausgehöhlt, dabei für die wohlhabenderen Schichten die Steuern und Abgaben erhöht, sich gegen die Familien gewendet und zugleich Millionen von Menschen in die Prekarität verwaltet hat.  Die Erwerbstätigkeit in Deutschland sei höher als je zuvor, sagte die Kanzlerin, aber gleichzeitig sind Millionen von Menschen in Niedriglohnbeschäftigng und arm. Zum Thema Familienunterstützung ein Beispiel aus diesem Bereich: Wird ein Bezieher von Sozialhilfe nach SGB II, Mutter bzw. Vater, ist das Elternteil ökonomisch schlechter gestellt, denn das Kindergeld wird als Einkommen auf den Regelsatz angerechnet. Immerhin ist mit dem Kind auch eine Person mit eigenen Bedürfnissen mehr vorhanden. Ein Anreiz zur Familiengründung sähe anders aus.

Da Deutschland eine exportorientierte Volkswirtschaft ist, erreicht die Finanzmarktkrise Deutschland mit einiger zeitlicher Verzögerung, nämlich wenn die internationale Nachfrage nach Vorprodukten (z.B. Chemikalien, Polymerprodukte), Kraftfahrzeuge, Maschinen und Produktionsanlagen und anderen Produkten und Diensten aus Deutschland einbricht, erst dann wird Finanzmarktkrise am Arbeitsmarkt spürbar. Einbrüche bei den Auftragseingängen haben deutsche Unternehmen bereits während des ganzen Herbstes 2008 vermeldet. Hinzu kommt, dass im korporativen Kapitalisms Deutschland anders als in liberalen Ökonomien angloamerikanischer Prägung die Institution des Kündigungsschutzes etabliert ist. Diese Institution ist im Interesse der von Kündigung Betroffenen selbstverständlich wichtig, bedeutet jedoch ebenfalls, dass sich zu einem Stichtag X die Kündigungen in der Arbeitsmarktstatistik niederschlagen, die bereits drei Monate zuvor ausgeprochen wurden. Und weil sich die Kündigungswelle in der Arbeitsmarktstatistik Deutschlands bisher nicht zeigt, sehen die deutsche Kanzlerin und ihr Finanzminister Steinbrück anders als ihre Amtskollegen aus den USA und den europäischen Nachbarländern bisher noch keinen Anlass zum Eingreifen. Sie wischt den von Joseph Stiglitz empfohlenenen Keynianismus beiseite und verabreicht der Bevölkerung mit halbherzigen Konjunkturpaketen Beruhigungspillen. Wie Paul Krugman in Reaktion auf dieses Newsweek-Interview von Peer Steinbrück erklärt, sind die anderen europäischen Regierungen, z.B. die Briten, Fanzosen und Italiener not amused. Aber weshalb reagiert unsere Regierung nicht? Weil sie in der Auseinandersetzung über die anzustrebenden Maßnahmen die Große Koalition aufkündigen und zum Wahlkampf übergehen müsste. Zeit wird’s.

Ist Deutschland das Land mit der gläsernen Decke?

Als Heranwachsender reagiert man gereizt bis genervt, wenn Mütter und Großmütter von Benachteiligungen und Rückschlägen in Bildung, Ausbildung und Beruf berichten, die mit nichts anderem erklärbar sind als mit systematischer Benachteiligung, offener Diskriminierung und Ausgrenzung. „Passiert mir nicht!“ oder „Die Zeiten haben sich geändert“ gehören ins Repertoire typischer Reaktionen in der Lebensphase jung, idealistisch und noch ein klein wenig grün hinter den Ohren. Mit den ersten Erfahrungen erzwungener Nicht-Teilhabe wird man hellhörig. Ja, wie jetzt? Sowas passiert? Heute noch? Mir? Ausgeschlossen.

Gut, während der vergangenen 150 Jahre hat sich das Niveau der Benachteiligung und Ausgrenzung von Mädchen und Frauen von Generation zu Generation nach oben verschoben. Eine meiner Großmütter hat als Erwachsene gegen erhebliche Widerstände das Abitur nachgeholt, Latein und Altgriechisch studiert. Leider starb sie kurz nach dem 2. Weltkrieg als noch junge Frau, weil es kein Penicillin zur Behandlung ihrer Erkrankung gab. Aber Benachteiligung oder gar Ausgrenzung von Frauen heute? Wir können das Abitur machen. Wir können studieren, promovieren, beruflich aktiv sein, heiraten, wen wir wollen, Sport treiben, selbstbestimmt leben. All das war vor ca. 100 nicht selbstverständlich. Heutzutage ist die Benachteiligung von Frauen und Mädchen wohl mit dem Bild der ‚glass ceiling‘ zutreffend beschrieben. Gemeint ist, dass Frauen trotz hohen und höchsten Abschlüssen in Berufsbildung, Studium, akademischen Graden und Berufstätigkeit ungeachtet ihrer Qualifikation, Karriereaspirationen und Fleißes bei der Vergabe gut bezahlter Positionen bisher unverhältnismäßig schlechter gestellt bleiben als Männer und beim Erreichen ihrer Karriereziele deutlich hinter den Ergebnissen ihrer männlichen Kollegen zurückbleiben. Im Verlauf ihrer Karriere, so die These, stoßen Frauen an eine unsichtbare Decke, die sie an einem weiteren Aufstieg hindert. Dies, obgleich Bewerbungen von Frauen in Stellenausschreibungen häufig explizit erbeten werden und Frauen formal Frauen formal gleich behandelt werden. Heutzutage sind die Ergebnisse der Mädchen und Frauen beim höchsten Schulabschluss, dem Berufsabschluss, im Studium und bei der Promotion z.T. sogar besser als die der männlichen Absolventen. Doch beim Übergang zwischen dem Bildungswesen und dem Erwerbsleben kommt es zu einem Bruch. Die Erwerbsbeteiligung der Frauen bleibt geringer, Frauen finden sich bei der Vergabe der Top-Positionen in Organisationen nicht in gleicher Weise berücksichtigt wie Männer bzw. schaffen es in einem Auswahlverfahren nicht einmal bis in die engste Wahl. Die Anzahl weiblicher Vorstandsvorsitzender in deutschen Aktiengesellschaften lässt sich an einer Hand abzählen. Viele Frauen mit Erwerbswunsch und Karriereorientierung sehen sich in schlechter bezahlte, durch geringere Aufstiegschancen gekennzeichnete Positionen empfohlen, in ihren Potenzialen unterschätzt, andere bleiben aus Gründen der Nicht-Vereinbarkeit mit Partnerschaft und Familie hinter ihren Erwerbsmöglichkeiten zurück, und manchmal kommen sogar beide Faktoren zusammen. Aus dem neuen Genderdatenreport des Bundesministeriums für Familie, Frauen, Senioren und Jugend geht ein erschreckendes Ausmaß der Benachteilung von Frauen und Mädchen bezüglich der Erwerbseinkommen hervor:

Gleich, welchen Datensatz man einer Analyse der Erwerbseinkommen zu Grunde legt, das Einkommen von Frauen liegt in Deutschland bei ungefähr gleicher Arbeitszeit mindestens 20 Prozent unter dem von Männern.

Deutschland nehme im Hinblick gemeinsam mit Österreich und Großbritannien unter den 27 EU-Staaten einen der letzten Rangplätze bezüglich Angleichung der Einkommen von Frauen und Männern ein. Bei uns in Deutschland bei uns ist die genderspezifische Einkommensungleichheit besonders stark ausgeprägt. Die Einkommensungleichheit ist in den alten Bundesländern stärker ausgeprägt als in den neuen Bundesländern: Im Westen erreichen vollbeschäftigte Frauen nur 76 Prozent der Einkommen von Männern, im Osten 92 Prozent. In Deutschland beschäftigte ausländische Erwerbstätige verdienen weniger als deutsche, und dies macht sich bei Frauen ohne deutschen Pass besonders stark bemerkbar. Frauen, so die Studie, sind überproportional in den Wirtschaftssegmenten und Positionen zu finden, wo die Entlohnung geringer ist. Sie arbeiten in schlechter bezahlten Branchen, in kleineren Betrieben, und sie erreichen seltener solch lange Betriebszugehörigkeiten wie Männer. Zudem sind sie (bisher noch) jünger und weniger qualifiziert. Spezifisch deutsch, so die Studie, ist die sehr lange Dauer der familienbedingten Berufsunterbrechung bei Frauen, die besonders mit fehlenden Betreuungsplätzen für Kinder erklärt wird. Und schließlich wird die Einkommensungleichheit mit der hohen Quote der Teilzeitarbeit von Frauen in Deutschland erklärt. Betrachtet man Einkommens- und Vermögensrelationen, ergibt sich ein erhebliches Wohlstandsgefälle zwischen Männern und Frauen: Nicht nur die Erwerbseinkommen der Frauen sind geringer als die von Männern, Frauen besitzen nur etwa 70 Prozent der Vermögenssummen, über die Männer im Schnitt verfügen. Arbeitslosigkeit stellt für alle Menschen ein erhebliches Armutsrisiko dar, doch auch hier sind Frauen etwas stärker von Armut betroffen: Im Jahr 2003 lebten 63 Prozent der arbeitslosen Frauen unterhalb der Armutsgrenze, ebenso 52 Prozent der Männer.

Das Klartextblog von Marion Lüttig (Deutscher Frauenrat) schreibt ironisch:

Ein halbes Jahrhundert nach seiner Gründung gibt der der deutsche Frauenrat, Bundesverband deutscher Frauenorganisationen, seine Auflösung bekannt. Gegründet, um den Frauen und Themen rund um die Gleichberechtigung von Frauen und Männern in der bundesrepublikanischen Gesellschaft eine Stimme zu geben, ist das Ziel des Verbands – die Gleichstellung von Frauen und Männern – mittlerweile weitgehend erreicht. „Wir haben uns selbst überlebt!“, berichtet Brunhilde Raiser, die Vorsitzende des Deutschen Frauenrats freudig.

Gerne teile ich jeden Optimismus, doch um mal eine Zeit-Achse ins Gespräch zu bringen: Wir sind uns ziemlich einig, dass bis zur Auflösung der Frauenräte noch eine Menge Wasser den Rhein hinunter fließen und viel, viel Arbeit nötig sein wird. Allein unter dem Aspekt Ungleichheit braucht sich der Frauenrat vermutlich während der nächsten 50 Jahre kaum um seinen Bestand zu sorgen.