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Deutschland, Deine Armutsindustrie

Wir haben in Deutschland ca. 3,8 Millionen Arbeitslose und eine hohe versteckte Arbeitslosigkeit, d.h. Menschen, die – vermutlich aus wahltaktischen Erwägungen der Regierungsparteien – in der Statistik der Bundesagentur für Arbeit nicht als Arbeitssuchende aufgeführt werden müssen, weil man sie in aus Steuermitteln finanzierter Kurzarbeit oder in staatlich subventionierten Qualifizierungs- und Beschäftigungsmaßnahmen „untergebracht“ hat. Wie diese Menschen in der Sozialgesetzgebung nach HartzIV tatsächlich „beschäftigt“ werden, wie die ARGEN ihnen Beine machen, damit sie sich auch auf demütigende, sinnfreie Tätigkeiten und Jobs ohne jede Perspektive  einlassen und wie Unternehmen von der Not der Betroffenen profitieren, hat der WDR vergangene Woche in einer erschütternden Reportage gezeigt. Leseempfehlung dazu: Claudia KlingerSanta Prekaria.

Analytisch klarer dazu schreibt  Wolfgang Streeck (2009): „Re-forming Capitalism„. Darin untersucht Streeck, wie die Institutionen der sozialen Marktwirtschaft in Deutschland – branchenbezogener Flächentarif, Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften, Sozialpolitik, Öffentliche Finanzen und die abnehmende Verflechtung der „Deutschland AG“ – seit den 1970er Jahren abgeschwächt und ausgehöhlt werde, wie sich der koordinierte Kapitalismus deutscher Prägung immer weiter in Richtung des liberalen Modells angelsächsischer Prägung verändert und inwiefern die deutsche Variante dieser Angleichung an das angeslsächsische Modell des liberalen Kapitalismus als pathologisch bezeichnet werden kann. In einem ebenfalls sehr lesenswerten Aufsatz „Reigning in Flexibility“ erläutert Streeck, wie „Markt“ (hier als Extremform des Marktwettbewerbs als soziales Ordnungsprinzip) und „Flexibilität „dazu eingesetzt werden, dass die Mensche mit immer mehr Knappheit umgehen müssen und welche sozialen Folgen das hat: z.B. sinkende Geburtenraten, weil junge Erwachsene genug mit der Unsicherheit zu tun haben, die andere auf sie abwälzen und unter den gegebenen Verhältnissen keine Ambitionen entwickeln, eine eigene Familie zu gründen. Traurige Ironie an der deutschen Variante des Strukturwandels im Kapitalismus ist, dass liberale Grundprinzipien wie „Marktwettbewerb“, „Flexibilität“ usw. für die Menschen größere Handlungsspielräume und erweiterte Möglichkeitshorizonte bedeuten müssten, in der deutschen Sozialstaatsgesetzgebung nach HartzIV den Menschen jedoch das Korsett der „Aktivierungspolitik“ der Bundesagentur für Arbeit aufgezwungen wird, die sich weder an Freiheit  interessiert zeigt, noch Anreize gibt oder Ressourcen bereitstellt, mit denen der Betroffene eine neue, bessere Situation für sich selbst erschaffen kann und stattdessen auf Aktivierung durch Androhung von Leistungsentzug setzt. Die Videos zeigen Erscheinungsformen, Widersprüche und soziale Folgen des von Streeck beschriebenen Wandels des Kapitalismus bezogen auf die Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik Deutschlands.

Videos: Teil 1, Teil 2, Teil 3.

Nachtrag 21.07.09: Dokubeitrag ARD aus 2008 – Fallbeispiel Überwachung einer HartzIV-Bezieherin (via PiratHH)

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Hartz IV – Überhitzte Mediendebatte und Wohlfahrtswirklichkeit

In seiner Reihe „Ratgeber & Magazine“ strahlt SAT 1 eine Doku-Reihe mit dem Titel „Gnadenlos gerecht – Sozialfahnder ermitteln“ aus. Darin spüren Mitarbeiter einer ARGE Verdachtsfällen von Sozialbetrug nach. Demnächst wird die Serie abgesetzt. In einer Erklärung teilt Landrat Peter Walter vom Landkreis Offenbach mit, es werde keine weiteren Reportagen mit dem privaten TV Sender Sat. 1 im Bereich „Soziale Ermittlung“ geben. Zugleich rechtfertigt er seine Entscheidung, der TV Produktionsfirma die Erlaubnis erteilt zu haben, die beiden „Sozialfahnder“ begleiten zu lassen. Eine erneute Staffel werde nicht gesendet, doch die zwei verbleibenden von vier Sendungen werden noch ausgestrahlt. In Anlehnung an die SAT 1-Serie bläst die BILD zur Jagd auf Hartz IV Bezieher. Anders als bei der SAT-1 Serie, die sich um Ausgleich bemüht zeigt und gelegentlich über Notlagen hilfsbedürftiger Menschen berichtet, beinhaltet „der grosse Hartz IV-Report“ der BILD zunächst im Portrait-Stil Artikel über Arbeitslose und Jobvermittler, gefolgt von reißerischen Artikeln über Hartz-IV-Betrüger, Sozial-Schmarotzer und Anwälte, die den Betrügern behilflich sind. Die Kernbotschaft lautet: Sozialbetrug stelle nicht die Ausnahme, sondern den Regelfall dar. Das Arbeitslosengeld II müsse gesenkt werden, um Anreize zum Arbeiten zu setzen. Ein Aufheizen der politischen Stimmung wird mindestens bereitwillig in Kauf genommen [siehe SPIEGEL 1, 2]. Die drastischen Beispiele aus der BILD erscheinen mir zudem unglaubwürdig, denn die abgelichteten Personen, die sich stolz und frech vor der Kamera präsentieren, werden anders als die gezeigten Personen in der in der SAT 1-Serie nicht unkenntnich gemacht. Weiterlesen