Als Heranwachsender reagiert man gereizt bis genervt, wenn Mütter und Großmütter von Benachteiligungen und Rückschlägen in Bildung, Ausbildung und Beruf berichten, die mit nichts anderem erklärbar sind als mit systematischer Benachteiligung, offener Diskriminierung und Ausgrenzung. „Passiert mir nicht!“ oder „Die Zeiten haben sich geändert“ gehören ins Repertoire typischer Reaktionen in der Lebensphase jung, idealistisch und noch ein klein wenig grün hinter den Ohren. Mit den ersten Erfahrungen erzwungener Nicht-Teilhabe wird man hellhörig. Ja, wie jetzt? Sowas passiert? Heute noch? Mir? Ausgeschlossen.
Gut, während der vergangenen 150 Jahre hat sich das Niveau der Benachteiligung und Ausgrenzung von Mädchen und Frauen von Generation zu Generation nach oben verschoben. Eine meiner Großmütter hat als Erwachsene gegen erhebliche Widerstände das Abitur nachgeholt, Latein und Altgriechisch studiert. Leider starb sie kurz nach dem 2. Weltkrieg als noch junge Frau, weil es kein Penicillin zur Behandlung ihrer Erkrankung gab. Aber Benachteiligung oder gar Ausgrenzung von Frauen heute? Wir können das Abitur machen. Wir können studieren, promovieren, beruflich aktiv sein, heiraten, wen wir wollen, Sport treiben, selbstbestimmt leben. All das war vor ca. 100 nicht selbstverständlich. Heutzutage ist die Benachteiligung von Frauen und Mädchen wohl mit dem Bild der ‚glass ceiling‘ zutreffend beschrieben. Gemeint ist, dass Frauen trotz hohen und höchsten Abschlüssen in Berufsbildung, Studium, akademischen Graden und Berufstätigkeit ungeachtet ihrer Qualifikation, Karriereaspirationen und Fleißes bei der Vergabe gut bezahlter Positionen bisher unverhältnismäßig schlechter gestellt bleiben als Männer und beim Erreichen ihrer Karriereziele deutlich hinter den Ergebnissen ihrer männlichen Kollegen zurückbleiben. Im Verlauf ihrer Karriere, so die These, stoßen Frauen an eine unsichtbare Decke, die sie an einem weiteren Aufstieg hindert. Dies, obgleich Bewerbungen von Frauen in Stellenausschreibungen häufig explizit erbeten werden und Frauen formal Frauen formal gleich behandelt werden. Heutzutage sind die Ergebnisse der Mädchen und Frauen beim höchsten Schulabschluss, dem Berufsabschluss, im Studium und bei der Promotion z.T. sogar besser als die der männlichen Absolventen. Doch beim Übergang zwischen dem Bildungswesen und dem Erwerbsleben kommt es zu einem Bruch. Die Erwerbsbeteiligung der Frauen bleibt geringer, Frauen finden sich bei der Vergabe der Top-Positionen in Organisationen nicht in gleicher Weise berücksichtigt wie Männer bzw. schaffen es in einem Auswahlverfahren nicht einmal bis in die engste Wahl. Die Anzahl weiblicher Vorstandsvorsitzender in deutschen Aktiengesellschaften lässt sich an einer Hand abzählen. Viele Frauen mit Erwerbswunsch und Karriereorientierung sehen sich in schlechter bezahlte, durch geringere Aufstiegschancen gekennzeichnete Positionen empfohlen, in ihren Potenzialen unterschätzt, andere bleiben aus Gründen der Nicht-Vereinbarkeit mit Partnerschaft und Familie hinter ihren Erwerbsmöglichkeiten zurück, und manchmal kommen sogar beide Faktoren zusammen. Aus dem neuen Genderdatenreport des Bundesministeriums für Familie, Frauen, Senioren und Jugend geht ein erschreckendes Ausmaß der Benachteilung von Frauen und Mädchen bezüglich der Erwerbseinkommen hervor:
Gleich, welchen Datensatz man einer Analyse der Erwerbseinkommen zu Grunde legt, das Einkommen von Frauen liegt in Deutschland bei ungefähr gleicher Arbeitszeit mindestens 20 Prozent unter dem von Männern.
Deutschland nehme im Hinblick gemeinsam mit Österreich und Großbritannien unter den 27 EU-Staaten einen der letzten Rangplätze bezüglich Angleichung der Einkommen von Frauen und Männern ein. Bei uns in Deutschland bei uns ist die genderspezifische Einkommensungleichheit besonders stark ausgeprägt. Die Einkommensungleichheit ist in den alten Bundesländern stärker ausgeprägt als in den neuen Bundesländern: Im Westen erreichen vollbeschäftigte Frauen nur 76 Prozent der Einkommen von Männern, im Osten 92 Prozent. In Deutschland beschäftigte ausländische Erwerbstätige verdienen weniger als deutsche, und dies macht sich bei Frauen ohne deutschen Pass besonders stark bemerkbar. Frauen, so die Studie, sind überproportional in den Wirtschaftssegmenten und Positionen zu finden, wo die Entlohnung geringer ist. Sie arbeiten in schlechter bezahlten Branchen, in kleineren Betrieben, und sie erreichen seltener solch lange Betriebszugehörigkeiten wie Männer. Zudem sind sie (bisher noch) jünger und weniger qualifiziert. Spezifisch deutsch, so die Studie, ist die sehr lange Dauer der familienbedingten Berufsunterbrechung bei Frauen, die besonders mit fehlenden Betreuungsplätzen für Kinder erklärt wird. Und schließlich wird die Einkommensungleichheit mit der hohen Quote der Teilzeitarbeit von Frauen in Deutschland erklärt. Betrachtet man Einkommens- und Vermögensrelationen, ergibt sich ein erhebliches Wohlstandsgefälle zwischen Männern und Frauen: Nicht nur die Erwerbseinkommen der Frauen sind geringer als die von Männern, Frauen besitzen nur etwa 70 Prozent der Vermögenssummen, über die Männer im Schnitt verfügen. Arbeitslosigkeit stellt für alle Menschen ein erhebliches Armutsrisiko dar, doch auch hier sind Frauen etwas stärker von Armut betroffen: Im Jahr 2003 lebten 63 Prozent der arbeitslosen Frauen unterhalb der Armutsgrenze, ebenso 52 Prozent der Männer.
Das Klartextblog von Marion Lüttig (Deutscher Frauenrat) schreibt ironisch:
Ein halbes Jahrhundert nach seiner Gründung gibt der der deutsche Frauenrat, Bundesverband deutscher Frauenorganisationen, seine Auflösung bekannt. Gegründet, um den Frauen und Themen rund um die Gleichberechtigung von Frauen und Männern in der bundesrepublikanischen Gesellschaft eine Stimme zu geben, ist das Ziel des Verbands – die Gleichstellung von Frauen und Männern – mittlerweile weitgehend erreicht. „Wir haben uns selbst überlebt!“, berichtet Brunhilde Raiser, die Vorsitzende des Deutschen Frauenrats freudig.
Gerne teile ich jeden Optimismus, doch um mal eine Zeit-Achse ins Gespräch zu bringen: Wir sind uns ziemlich einig, dass bis zur Auflösung der Frauenräte noch eine Menge Wasser den Rhein hinunter fließen und viel, viel Arbeit nötig sein wird. Allein unter dem Aspekt Ungleichheit braucht sich der Frauenrat vermutlich während der nächsten 50 Jahre kaum um seinen Bestand zu sorgen.