Kongresse der Deutschen Gesellschaft für Soziologie erfahren gewöhnlich ein mittelprächtiges Maß an öffentlicher Aufmerksamkeit. Sie werden von vielen Politikern – nicht allen- mit der Tonlage „versteht eh Mensch, was Ihr da macht, und zu was soll das nütze sein?!“ kommentiert, und am Ende des Tages stellt man fest, dass der Kongress nur mit einer geringen Zahl von Artikeln in der überregionalen Presse vertreten ist: Diesmal hat die Gesellschaft aus der Presse über sich erfahren dürfen, dass Soziologen vor Rebellionspotenzial warnen oder ihr umgekehrt einiges Rebellionspotenzial zutrauen, Ungleichheit neu vermessen werden muss und Gier nicht alles ist [Netzzeitung, Welt; Tagesspiegel; Printausgabe NZZ 10.10.08, S. 26].
Während die Tagung eröffnet wurde, habe ich den Fernseher eingeschaltet und Kursstürze in Frankfurt und New York angeschaut. Katastrophales Krisenmanagement der deutschen Bundesregierung, so der Tenor. Dienstag morgen haben sie Kursstürze aus New York und Tokyo vermeldet. Dienstag Abend verkündeten die Nachrichten, dass mit Island der erste europäische Nationalstaat am Rand der Zahlungsunfähigkeit steht. Mittwoch früh verpasste die britische Regierung ihren Geschäftsbanken eine Liquiditätsspritze, während die Kommentatoren von CNN das internationale Bankensystem verabschiedeten. Donnerstag morgen führten die Kommentatoren bei CNN eine erregte Diskussion, wie es denn möglich sei, dass man jetzt eine solche Krise erlebe, wo man doch alle Lektionen aus der Finanzkrise am Standort Tokyo in den 1990er Jahren umgesetzt habe. Irgendein Sender präsentierte ein verzweifeltes Ehepaar, das seine gesamten Ersparnisse bei Lehmann Brothers angelegt hatte. Geplatzt alle Träume von einer gesicherten Zukunft. Aber nur ein Extremfall, betonte der Sender. Donnerstag Abend fand Rivva eine Meldung, wonach der Bundesrat in Reaktion auf die Klagewelle zu Hartz IV kommenden Freitag eine Gesetzesvorlage der großen Koalition plant, der die Rechtsberatung für Bezieher von Hartz IV erschwert und die den Rechtsweg erheblich verteuern soll [Welt]. Hätten die Menschen keinen Deutungsbedarf, bräuchte man keine Soziologie. Doch der Kongress „Unsichere Zeiten“ war von allen DGS-Kongressen, die ich bisher mitbekommen habe, der aktuellste und zudem einer der besten.
Plenum Korruption
Die Tagung „Unsichere Zeiten“ hat mich zunächst ins Plenum I über Korruption der DGS-Sektion politische Soziologie geführt. Dort diskutierte Wolfgang Hetzer (Brüssel) Korruption aus einer juristischen Perspektive als „Corporate Culpability“. Er stellte die Frage nach der Schuld und Moralfähigkeit von Unternehmen wie z.B. in der Siemens-Affäre. Aus einer Perspektive der Korruptionsbekämpfung stellt sich ihm pragmatisch die Frage nach der Zurechenbarkeit von Schuld und den Möglichkeiten, Organisationen für ihr Korruptionshandeln verantwortlich zu halten: Ist Korruption etwa ein Strafrechtsphänomen? Ein Fall fürs Dienstrecht? Ein Organisationsphänomen? Ist den Personen nicht bewusst, dass sie Teil der Korruption ihrer Organisation sind? Noch bis vor wenigen Jahren galt Korruption als Kavaliersdelikt, erst seit Mitte der 1990er Jahre wird Korruption öffentlich angeprangert, und erst in den letzten Jahren hat Korruption – etwa Bestechungshandeln – Eingang ins Strafgesetzbuch gefunden.
Gegen die Nahelegung des Nichtwissens der Akteure korrupten Handelns in Organisationen, somit auch gegen Annahme der Schuldunfähigkeit korporativer Akteure bzw. juristischer Personen wandte sich Peter Graeff (München) ebenfalls am Beispiel der Siemens-Affäre. Weiterlesen →