Entwarnung in Sachen Internetsperren?

Mit Befremden und Entsetzen haben Guido Möllering und ich während unserer Arbeit am gemeinsamen Papier zur Problematik des Vertrauens im Internet verfolgt, wie Bundestag und Bundesrat auf Initiative der Familienministerin Ursula von der Leyen das #Zugangserschwerungsgesetz durchgeboxt haben. Wir sind darin einig, dass mit Zugangssperren per staatlicher Governance und technischen Filtern garantiert kein vertrauenswürdiges Internet entsteht (siehe meine Beiträge dazu 1, 2). Und nun könnte die ePetition gegen das Gesetz zur Indizierung und Sperrung von Internetseiten mit ihren ca. 134.000 Unterschriften (darunter meine) am Ende doch noch erfolgreich sein?! Zumindest für drei Monate, schreibt Henning Ernst Müller im beck-blog:

Überraschung? Nicht für beck-blog-Leser. Aufgrund des hier im beck-blog erstmals von Herrn Prof. Hoeren vorgebrachten europarechtlichen Einwands (erforderliches Notifizierungsverfahren) kann das Zugangserschwerungsgesetz vorerst nicht in Kraft treten, sondern frühestens in drei Monaten.

Thomas Stadtler vermutet andere Ursachen:

Diese Begründung klingt abenteuerlich, wenn man bedenkt, dass Bundesregierung und Bundestag sich bislang wenig um die erheblichen verfassungsrechtlichen Bedenken die gegen das Gesetzesvorhaben vorgebracht worden sind, gekümmert haben, sondern das Gesetz im Eiltempo noch vor den Wahlen durch das Parlament gepeitscht haben. Soll also jetzt tatsächlich ein bloßes Stellungnahmeverfahren, das eine EU-Richtlinie vorsieht, ein Hindernis darstellen? Weil das unwahrscheinlich klingt, werden Stimmen laut, die andere Ursachen vermuten und unterstellen, das BKA hätte es bislang nicht geschafft, eine ausreichende Sperrliste zur Verfügung zu stellen, weil man schlicht feststellen musste, dass es (außerhalb der EU) gar nicht genug Websites mit eindeutig kinderpornografischem Content gibt, die zu sperren wären.

Variante 1 würde mich ja hoffnungsfroh stimmen. Variante 2 dürfte dem wachsenden Misstrauen gegen die amtierende Bundesregierung erneut Futter geben. Einen sehr guten Beitrag zum umstrittenen Sperrgesetz von Ursula von der Leyen – er favorisiert Variante 1 – hat gestern das Kulturmagazin ASPEKTE vom ZDF gesendet:

(Video via Netzpolitik).

Nachtrag 02.08.09: Inzwischen hat Ursula von der Leyen in einem Interview gegenüber dem Hamburger Abendblatt gesagt, sie möchte den „Kampf gegen den Schmutz“ im Internet verschärfen und erweitert ihre Vorhaben – genau wie ich zuvor befürchtet habe – nun auf „rechte Inhalte“ (Heise). Netzpolitik vermutet nicht unplausibel die Möglichkeit weiterer Internetsperren, 50Hz fordert nachdrücklich den öffentlichen Dialog mit der Bundesministerin ein.  Das Law Blog kommentiert sehr treffend: „Die Meinungsfreiheit als Sondermüll„. Franz Patzig schreibt: „Von der Leyen – an Infamie kaum noch zu überbieten.“ Da sich, wie der Nachrichtenaggregator Rivva am 02.08.09 zeigt, die Stimmung heute erneut aufgeladen hat, folgt sogleich ein Dementi der Bundesfamilienministrerin: „Von der Leyen stellt klar – keine weiteren Sperren“ (Welt). Von der Leyen hat doch nicht etwa bemerkt, dass sie es mit Erwachsenen, ja Wählern, zu tun hat?! Und bevor ich vor meinem geistigen Auge weiterhin Walter Ulbricht vor mir sehe, schalte ich dieses Internetz für heute ab.

Update 03.08.09: Vorerst wird es vermutlich keine Entwarnung geben können – nicht solange staatliche Governance des Internet mithilfe von Filtern und Internetsperren weiter auf der Agenda der politischen Parteien steht und Parteien im Wahlkampf versuchen, Wählerstimmen zu gewinnen, indem sie den älteren Bürgern vor der Generation der Internetnutzer und -gestalter Angst machen. Der Artikel „Aufstand der Netzbürger“ (SPIEGEL) ist zwar in vielen Punkten kritikwürdig; zutreffend ist aber immerhin der Kern eines wachsenden Generationengrabens (Matthias Schwenk) die Etablierung von Netzpolitik als neuem mobilisierungstauglichem Politikfeld. (Christoph Bieber). Dass von der Leyen gelogen hat, durften wir bereits vor längerem bei Thomas Knüwer erfahren [1,2]. Von der Leyens Dementi in der WELT, es gehe ihr ‚jetzt‘ um den Kampf gegen die ungehinderte Verbreitung von Bildern vergewaltigter Kinder, ist kein überzeugendes Dementi im Hinblick auf weitere Internetsperren. Nicht überzeugend, findet der AK Zensur. Prompt tritt auch die Kommission für Jugendmedienschutz der Landesmedienanstalten mit eigenen Sperrvorhaben auf den Plan. Drastischer möchte ich das Dementi der Bundesministerin auch als Versuch im Bundestagswahlkampf deuten, Beruhigungspillen zu verteilen und sich den erbosten jungen Wählern anzubiedern. Ich bezweifle, dass dieser Versuch von Erfolg gekrönt sein wird und werde gern mit meiner Stimme am 27.09.09 dazu beitragen, dies zu verhindern.

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