Hartz IV – Überhitzte Mediendebatte und Wohlfahrtswirklichkeit

In seiner Reihe „Ratgeber & Magazine“ strahlt SAT 1 eine Doku-Reihe mit dem Titel „Gnadenlos gerecht – Sozialfahnder ermitteln“ aus. Darin spüren Mitarbeiter einer ARGE Verdachtsfällen von Sozialbetrug nach. Demnächst wird die Serie abgesetzt. In einer Erklärung teilt Landrat Peter Walter vom Landkreis Offenbach mit, es werde keine weiteren Reportagen mit dem privaten TV Sender Sat. 1 im Bereich „Soziale Ermittlung“ geben. Zugleich rechtfertigt er seine Entscheidung, der TV Produktionsfirma die Erlaubnis erteilt zu haben, die beiden „Sozialfahnder“ begleiten zu lassen. Eine erneute Staffel werde nicht gesendet, doch die zwei verbleibenden von vier Sendungen werden noch ausgestrahlt. In Anlehnung an die SAT 1-Serie bläst die BILD zur Jagd auf Hartz IV Bezieher. Anders als bei der SAT-1 Serie, die sich um Ausgleich bemüht zeigt und gelegentlich über Notlagen hilfsbedürftiger Menschen berichtet, beinhaltet „der grosse Hartz IV-Report“ der BILD zunächst im Portrait-Stil Artikel über Arbeitslose und Jobvermittler, gefolgt von reißerischen Artikeln über Hartz-IV-Betrüger, Sozial-Schmarotzer und Anwälte, die den Betrügern behilflich sind. Die Kernbotschaft lautet: Sozialbetrug stelle nicht die Ausnahme, sondern den Regelfall dar. Das Arbeitslosengeld II müsse gesenkt werden, um Anreize zum Arbeiten zu setzen. Ein Aufheizen der politischen Stimmung wird mindestens bereitwillig in Kauf genommen [siehe SPIEGEL 1, 2]. Die drastischen Beispiele aus der BILD erscheinen mir zudem unglaubwürdig, denn die abgelichteten Personen, die sich stolz und frech vor der Kamera präsentieren, werden anders als die gezeigten Personen in der in der SAT 1-Serie nicht unkenntnich gemacht.

Aktivierende Arbeitsmarktpolitik, soziale Solidarität und neue Konflikte

Erwerbsquote, Erwerbstätige und Erwerbslose

Erwerbsquote, Erwerbstätige und Erwerbslose, BA

Steht Hartz IV für eine erfolgreiche Sozialpolitik, die mehr Menschen in Beschäftigung führt und den Weg zum Aufbau eines bescheidenen Wohlstands ebnet, oder für eine gewollte Verschärfung sozialer Ungleichheit? Die FAZ z.B. preist die Hartzgesetze als „Wunder am deutschen Arbeitsmarkt“ an. Hartz habe eine Steigerung der Marktdynamik bewirkt, stehe für Rückgang der Abhängigkeit von Transferleistungen, trage zum Sinken der Akzeptanzlöhne bei und helfe den Sozialhilfeempfängern. Im Spiegel-Interview verweist BA-Chef Wiese, selbst CDU-Mitglied, auf seine parteipolitische Unabhängigkeit qua Amt. Im Header des Interviews meldet der Spiegel mit Hinweis auf den Konjunkturrückgang Zweifel an der Jobwunderthese an. Bereits 2007 zog der DGB eine düstere 5-Jahres-Bilanz und verwies auf ein Zwei-Klassensystem der Förderung und Intensivierung statt Bekämpfung von Armut infolge der Hartzgesetze. Im Raum stehen der der Vorschlag der Sozialdemokraten, den Regelsatz von Hartz IV von derzeit 315 auf 420 Euro zu erhöhen, das Wohngeld zu erhöhen und eine Kindergrundsicherung einzuführen, sowie eine stetig anschwellende Klageflut auf höhere Leistungen bei den Sozialgerichten. Die Zahl der Verfahren im ersten Halbjahr 2008 im Zusammenhang mit SGB II stieg im Vergleich zum Vorjahr um gut 36 Prozent auf knapp 62.000 an. Jobcenter und Bürger streiten sich über Renovierungskosten, Mietkautionen, Zwangsumzüge, Überbrückungsgeld, Zuständigkeiten, fehlende Bescheide und nicht ausgezahlte Leistungen, und Sozialrichter klagen über extreme Überlastung [FAZ 1, FAZ 2, FAZ 3; Gegen Hartz].

Rückgrat der 2005 in Kraft getretenen Hartzgesetzgebung ist das Paradigma der Aktivierung erwerbsfähiger Hilfeempfänger. In den Vereinigten Staaten existiert die Norm der Sicherung eines soziokulturellen Existenzminimums nicht. In diesem Jahr sind 25 Millionen Menschen in den USA auf Lebensmittelmarken angewiesen [Independent]. In den europäischen Nationalstaaten werden Sozialpolitiken implementiert, denen Aktivierungsstrategien zugrunde liegen. Aktivierungsziele sind Qualifizierung, Eingliederung ins Erwerbsleben bzw. die Leitidee, dass für Empfänger von Transferleistungen Gegenleistungen verpflichtend sind. Sowird in den skandinavischen Ländern Erwebsarbeit nicht nur als Sicherung des Lebensunterhalts betrachtet, sondern ebenfalls als Grundlage aktiver Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. In Großbritannien wird die Unabhängigkeit des Individuums stärker hervorgehoben. Ebenfalls auf Unabhängigkeit gerichtet ist das niederländische Leitbild „Arbeit vor Transfereinkommen„. Die Maßnahmen selbst, soziale Selektivität beim Zugang und die Wirksamkeit der Programme sind verschieden, und generell haben Personen aus marginalisierten Gruppen schlechtere Chancen auf reguläre Beschäftigung und erneuten sozialen Aufstieg. Anderen Nationalstaaten ist des besser als Deutschland gelungen, zu vermitteln, dass Aktivierung neben kontrollierenden und begrenzenden auch unterstützende Aspekte beinhaltet [IAB Kurzbericht 04/08 und Kurzbericht 08/08]. Allerdings ist die Hartzgesetzgebung am Negativbild des „passiven Arbeitslosen“ orientiert, der durch eine geeignete Kombination von Fördermaßnahmen und strengen Zumutbarkeitsregeln zu „reaktivieren“ sei. Die Arbeitslosigkeit wird vorrangig nicht primär als Strukturproblem oder Konsequenz wachsender internationaler Wirtschaftsverflechtung im Finanzmarktkapitalismus diskutiert, sondern als selbstantwortetes Resultat des Arbeitslosen, der Arbeitslose zum Unternehmer der eigenen Beschäftigungsfähigkeit und Profiteur sozialer Solidarität erklärt.

Hartz und das Leben in Prekarität

Unterversorgung mit relevanten Gütern bei SGBII

Unterversorgung mit relevanten Gütern bei SGBII, ISI 40 S. 8

Seit der Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe Anfang 2005 ist das ALG II das wichtigste Instrument der Armutsbekämpfung in Deutschland. Bisher liegen kaum detaillierte Studien über die materiellen Lebensumstände der SGB-II Empfänger vor. Begründet wird dieses Fehlen von Daten mit dem geringen Prozentsatz der SGB-II-Empfänger mit etwas unter 10 Prozent, der nur in sehr großen Umfragen hinreichend große Datensätze ergebe, um detaillierte Analysen durchführen zu können, aber auch mit Messproblemen: Wie soll Armut unter SGB-II-Empfängern bestimmt werden? Der Informationsbericht Soziale Indikatoren legt einen Index für die Relevanz bestimmter Güter nach dem Panel Arbeitsmarkt und Soziale Sicherung (PASS) zugrunde. Er bestimmt Armut als Anteil derjenigen, die aus finanziellen Gründen nicht über die relevanten Güter verfügen. Der Bericht attestiert den Empfängern von Transferleistungen eine ordentliche Versorgung mit elementaren Gütern, aber eine deutliche Einschränkung der Lebensqualität. 6-8 Prozent der SGB-II-Bezieher berichteten, sich nicht täglich eine warme Mahlzeit leisten zu können, in feuchten Wänden zu wohnen oder rezeptfreie Medikamente nicht zahlen zu können. 14 Prozent verfügten nicht über ausreichend Zimmer, 17 Prozent fehlt angemessene Winterkleidung. SGB-II-Empfänger sehen sich bei den finanziellen Möglichkeiten sozialer Teilhabe eingeschränkt. Circa 80 Prozent geben an, keinen jährlichen Urlaub zu machen oder keinen festen Geldbetrag pro Monat sparen zu können. Die fehlende Rücklagenbildung deutet an, dass bei länger andauerndem SGB-II-Bezug Defizite auch bei der Grundversorgung zu erwarten sind. Personen mit geringer formaler Bildung, Alleinerziehende und Ein-Personenhaushalte weisen besonders geringe Versorgungsniveaus auf [ISI 40, S. 7-11].

Erwerbsorientierungen im Prekärbereich, APUZ, S.20

Erwerbsorientierungen im Prekärbereich, APUZ, S. 20

Statt von einem Luxusleben wie bei SAT 1 und BIlD suggeriert sollte man eher von einer prekären Lebenslage sprechen, die Empfänger von SGB II ebenso betrifft wie Erwerbstätige im Niedriglohnsektor, jedoch mit dem Unterschied der Konfrontation der SGB II Empfänger mit staatlicher Aktivierungspolitik. Für viele Menschen aus den traditionellen Mittelschichten bedeutet Prekarität sozialen Abstieg, Statusverlust und Verunsicherung. Mitglieder traditioneller Unterschichten haben häufig keinen anderen Zustand kennengelernt. Über soziale Anerkennung von Prekarität und Armut wird immer wieder kontrovers gestritten, aktuell und z.B. vor zwei Jahren mit der Unterschichtdebatte. Die Hartzgesetze sind programatisch gegen eine Anerkennung der Prekarität bzw. einer „neuen Unterschicht“ gerichtet, die Jobcenter machen Detailprüfungen zum Dauerzustand, selbst wenn die Bedürftigkeit prinzipiell bereits zuvor anerkannt worden war. Anders als manch eine soziologische Zeitdiagnose suggeriert, können sich die Empfänger von SGB II ein Verweilen in der Passivität schon deshalb nicht erlauben, weil ein Fehlen von Erwerbsorientierungen sanktioniert würde. Eine Typologie der Erwerbsorientierungen bei Langzeitarbeitslosen und prekär Beschäftigten haben Peter Bescherer, Silke Röbenack und Karen Schierborn im Rahmen des SFB 580 „Gesellschaftliche Entwicklungen nach dem Systemumbruch. Diskontinuität, Tradition und Strukturbildung“ der Universität Jena mit qualitativen empirischen Studie aufgestellt. Die Autoren unterscheiden Nicht-Arbeiter, die Orientierungen jenseits von Erwerbsarbeit folgen, Als-Ob Arbeiter, die eine Lücke zwischen ihrer normativen Erwerbsorientierung und tatsächlichen Realisierungschancen aufweisen, und Um-jeden-Preis Arbeiter, für die eine starke normative Selbstbindung an Erwerbstätigkeit kennzeichnend ist. Als Typen mit je eigenen Verhaltensweisen und Strategien identifizieren sie Verweigerer, Konventionelle, Kompensierer, Selbsttätige, Minimalisten, Prekäre und Aussichtsreiche. Die Autoren gelangen zu der Schlussfolgerung, dass die Anwendung strenger Zumutbarkeitsregeln gemessen an den arbeitsmarktpolitischen Zielsetzungen weitgehend verpufft: Die Um-jeden Preis-Arbeiter sind bereit, nahezu alle Formen der Erwerbstätigkeit zu akzeptieren, um einem Leben unterhalb der „Schwelle der Respektabilität“ zu entgehen. Aktivierungsmaßnahmen werden als überflüssig, sinnlos oder gar als Drangsalierung erlebt, weil aktive Erwerbstätigkeit nicht angeboten wird. Die Als-Ob-Arbeiter würden gern einer Erwerbstätigkeit nachgehen und nutzen prekäre Arbeitsverhältnisse, um zumindest den Anschein der Normalität aufrechtzuerhalten. Nicht-Arbeiter sind auch mit harten Sanktionen kaum zu beeinflussen [APUZ 33-34/2008, S. 19-25].

Schließlich wählen SAT 1 und BILD in ihrer unfeinen Berichterstattung irreführende, angsteinflößende Formulierungen wie „Sozialfahnder“. Dabei handelt es sich um Mitarbeiter – vermutlich Fallmanager – aus Jobcentern, die unangekündigt in SGB-II Haushalten auftauchen und Fragen stellen. Hausbesuche mit Bespitzelungen durch Außendienstmitarbeiter der ARGEn sind übrigens aus Datenschutzgründen rechtswidrig. Sozialdaten dürfen im Regelfall nur von den Betroffenen selbst erhoben werden, entschied zumindest das Sozialgericht Düsseldorf Ende 2005. Damit bleibt, dass SAT 1 und BILD Stimmungsmache gegen Bezieher des SGB II betreiben, Ressentiments und Zorn in der Bevölkerung gegen die ohnehin Verunsicherten und Verängstigten schüren. Die fraglichen Serien von SAT 1 und BILD sind unzweifelhaft Vorboten des herannahenden Bundestagswahlkampfes, doch damit nicht gerechtfertigt und zudem als Sozialberichterstattung nicht ernstzunehmen. FAZ und der aktuelle Kurzbericht des IAB pflichten SAT 1 und BILD insofern bei, als sie sich ebenfalls gegen Veränderungen der aktivierenden Arbeitsmarktpolitik in den Hartzgesetzen wenden. Sie begründen ihre Ablehnung zum einen mit Nicht-Finanzierbarkeit, zum anderen mit Nicht-Wünschbarkeit, da eine Verbesserung der Lebensumstände in SGB II das Arbeitsangebot mindere und „starke negative Anreize“ für eine Erwerbstätigkeit darstelle [IAB Kurzbericht 11/2008, FAZ 4, Spiegel 3]. Die Debatte ist also der mediale Aufwasch der Rezession [Beitrag vom 14.07.08 ], die nun auch Deutschland erreicht, gemischt mit scharfen Wahlkampftönen aus der Union, kurz eine Einstimmung auf rauhere Zeiten.

7 Antworten zu “Hartz IV – Überhitzte Mediendebatte und Wohlfahrtswirklichkeit

  1. Ich habe die Teaser zu der Sat1 Serie auch mit entsetzen zur Kenntnis genommen. Das schlimme ist ja das Menschenbild was diesem Gesetz zugrunde liegt. Alle sind Faul und müssen zur Arbeit getrieben werden, notfalls mit der (finanziellen) Peitsche. Dabei ist leider das Fordern etwas zu sehr in den Vordergrund gerückt und das Fördern wird vernachlässigt. Ist ja auch leichter, jemandem das Geld zu kürzen, als in nicht vorhandene Arbeitsplätze zu vermitteln. Bei einer Rezession die länger andauert, könnte das noch zu großen Problemen führen.

    Ist auch die Frage, was man von Politikern halten soll, die sich selbst auf Kosten solcher Leute profilieren.

  2. Die ganze Entwicklung finde ich nicht gut: Hartz IV – Empfänger werden pauschal zu Sündenböcken gemacht, obwohl sie in den meisten Fällen nicht für die Umstände verantwortlich sind.

    Die eigentliche Problematik sehe ich darin, dass wir aufgrund der demografischen Entwicklung immer mehr Arbeitskräftemangel in bestimmten Berufsbildern haben werden, bei gleichzeitiger Arbeitslosigkeit in anderen Bereichen und auf anderen Ebenen (ältere Arbeitnehmer, kranke Personen, gering Qualifizierte…).

    In der Öffentlichkeit und den Medien lässt sich das dann trefflich vermischen und so tun, als könnte jeder arbeiten, wenn er nur wollte. Und noch extremer gesehen: Sozialhilfeempfänger liegen dem Staat auf der Tasche während sie anderswo dringend gebraucht würden!

  3. Pingback: till we *) . Blog » Zum Überlebensminimum-Unsinn (Update 2: Hartz-IV soziologisch betrachtet)

  4. (Ah, Trackback geht ja doch — dann kannst Du den händischen Kommentar von mir auch gerne wieder löschen …)

  5. Vielen Dank für die Kommentare! @Soziobloge – SAT 1 hat auf seiner Homepage einige kurze „Filmbeispiele“, auf die ich mich bezogen habe, die mögen auch illustrieren, was ich da gemeint habe. @ Matthias – stimme Dir völlig zu, bei der Arbeitslosigkeit und Bedürftigkeit sind ja auch die Folgen des Strukturwandels von der Verflechtungsstruktur der „Deutschland AG“ hin zum Finanzmarktkapitalismus wirksam. @ Till – spannender Beitrag von Dir & vielen Dank, dass Du den Hinweis auf die „Überlebensminimum-Studie“ gegeben hast. Schau mir das gleich kurz an und kommentier dann was bei Dir! Noch zu Ergänzen: Ich mach demnächst mal was zum Strukturwandel sozialer Solidarität im Kontext des bei Matthias angesprochenen Wandels, das dann hier anknüpft. [Übrigens: Trackbacks sind selbstverständlich offen geschaltet.]

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