Wer verbreitet wissenschaftliche Information in der Wissensgesellschaft des Internet?

Gutenbergtweet

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(The Gutenberg Tweet, via Historical Tweets)

Wie viele andere Autoren habe ich kürzlich Post bekommen von der VG Wort. Darin bittet die VG Wort mit dem Hinweis auf das Google-Books-Settlement die Autoren urhberrechtlich geschützter Werke um die Übertragung zahlreicher Rechte und Ansprüche. Worum geht es dabei? Im Rahmen des Angebots Google Book Search bietet Google gescannte und teils mit Volltext versehene Bücher zur Einsicht an.  Für dieses Angebot scannt Google urheberrechtlich geschützte Fachliteratur einschließlich der Texte von deutschsprachigen Autoren ein. Anhand der IP-Adresse differenziert Google zwei Nutzergruppen: Bürger in den USA und alle übrigen Internetnutzer. Folglich kann Google den Nutzergruppen unterschiedliche Ergebnisse anzeigen lassen (technisch realisiert durch IP-Blocking). Google scannt gemeinfreie Literatur, deren Autoren vor über 70 Jahren verstorben sind,  wie z.B. „Wirtschaft und Gesellschaft“ von Max Weber. Urheberrechtlich geschützte Werke – z.B. Monografien lebender Wissenschaftler – werden von Google, falls überhaupt, nur auszugsweise mit sogenannten“Snippets“ angezeigt. Das Google Books Settlement (Erklärung bei Irights.info) beinhaltet unter anderem, dass Google Bücher, soweit sie vergriffen sind, vermarkten darf, indem Internetnutzer Ansichtsrechte einzelner Bücher oder Bibliotheken mit den Volltexten kaufen können. Dafür sichert Google den Autoren, die sich direkt bei Google melden, einen Vergütungsanspruch zu. Im Mai 2009 wurde VG Wort von ihrer Mitgliederversammlung zur Wahrnehmung der Rechte deutscher Autoren gegenüber Google autorisiert.

Nun plant die VG Wort, bei allen lieferbaren und vergriffenen Büchern das „Removal“ zu erklären. D.h. die VG Wort möchte Google zwingen, die Bücher aus seinem Suchindex zu entfernen. Den Vorstellungen der VG Wort entsprechend sollen dem Internetnutzer keine Schnipsel oder Textauszüge aus lieferbaren Büchern mehr angezeigt werden. Dies würde der VG Wort ermöglichen, über mit Google über die Anzeige vergriffener Titel zu verhandeln. Inzwischen rief das Urheberrechtsbündnis die Wissenschaftsautoren dazu auf, im Interesse der Wissenschaft die Rechteübertragung an die VG Wort nicht vorzunehmen (IUWIS), weil die VG Wort die Interessen der Wissenschaftler nur unzureichend wahrnimmt, und unterbreitet den Autoren eigene Empfehlungen. Das Urheberrechtsbündnis selbst ist in Verhandlungen mit Google eingetreten und hofft, eine Übereinkunft bezüglich des Umgangs mit wissenschaftlicher Literatur zu erzielen, die Wissenschaftlern und Öffentlichkeit freien Zugang zu den Ergebnissen aus wissenschaftlicher Forschung gewährt [Leseempfehlung: Klaus Graf „Google Book Search, Open Access und die VG Wort„, H-Soz-u-Kult, 28.08.09].

Was ist im Interesse der Autoren? Welche Wissensordnung ist wünschenswert?

Die Auseinandersetzung um das Google-Books Settlement wirft zum einen die Frage auf, welche Maßnahme im Interesse der Wissenschaftsautoren liegt, zum anderen die Frage nach einer geeigneten gesellschaftlichen Wissensordnung. Als Wissenschaftlerin profitiere ich davon, wenn meine Texte immerhin mit einer eingeschränkten Vorschau im Bibliotheksprogramm einsehbar sind, weil dies unter den Bedingungen des Internet Sichtbarkeit verschafft. Zusätzlich profitiere ich davon, online einen Blick in die Werke anderer Wissenschaftler werfen und zumindest selektiv darin lesen zu können. Vielfach haben mir solche „Snippets“ gut gefallen, sodass ich mich danach zum Kauf entschlossen habe, und ich könnte mir gut vorstellen, dass andere Wissenschaftler ihre Entscheidug zum Kauf oder zur Lektüre ähnlich handhaben. Google’s Service der Bereithaltung von Textschnipseln liegt also durchaus in meinem Interesse. Doch über die persönliche Sicht des Einzelnen hinaus geht es ja auch um die gesellschaftliche Wissensordnung, also um das Verhältnis von Wissenschaft und Öffentlichkeit, darum, was legitimerweise erlaubt und verboten sein sollte. Wünschenswert wäre, dass jedermann freien Zugang zu wissenschaftlichem Wissen erhält (vgl. Göttinger Erklärung, Open Access):

1. Der Wissenschaftler ist Treuhänder bzw. Vertrauensnehmer gegenüber der Öffentlichkeit, die seine berufliche Tätigkeit ermöglicht. Dem Wissenschaftler sind Arbeitsmittel für die Zwecke von Forschung und Lehre anvertraut worden, und Wissenschaftler genießen einen gehobenen sozialen Status. In Deutschland finanziert der Steuerzahler die Professoren öffentlicher Hochschulen sowie den Großteil der Forschungsprojekte und Publikationen, und zwar bereits bevor sie erscheinen (mit Ausnahme der privat finanzierten Bildungs- und Forschungsinstitutionen). Der Soziologe Talcott Parsons ordnet das Wissenschaftssystem insgesamt dem sozialkulturellen System der Gesellschaft zu, womit die Wissenschaft Trägerin von Bildung, Forschung und Kultur wird und entsprechende soziale Funktionen wahrzunehmen hat [vgl. Talcott Parsons und Gerald Platt. 1968/1990 „Die amerikanische Universität. Ein Beitrag zur Soziologie der Erkenntnis„, Frankfurt/Main: Campus].

2. Der Wissenschaftler wird in der Öffentlichkeit anhand seiner Inhalte, Positionen und Publikationen identifiziert und beurteilt. Im Kampf um eine vorteilhafte Positionierung im akademischen Feld ist jedoch zwischen Forschern, Fachbereichen, Hochschulen und Forschungsinsinstitutionen ein Konformititätswettbewerb um die bestmögliche Erfüllung von Zielvorgaben entbrannt, welcher durch leistungsorientierte Mittelverteilung (LOM) als Steuerungsinstrument forciert wird und die professionelle Autonomie der Wissenschaftler infrage stellt. Der Leistungsbemessung und -bewertung wird eine Logik der Kennzahlen zugrunde gelegt, wo bibliografische Kennzahlen, z.T. auch sachfremde Tätigkeiten wie die Akquise von Drittmitteln an die Stelle Inhalten und Positionen in Forschung und Lehre getreten sind. Sie führen dazu, dass an die Stelle der horizontalen Differenzierung nach inhaltlichen Profilen eine vertikale Differenzierung nach Rang getreten ist und die durch Rankingverfahren systematisch bevorteilten Eliten bessere Ausgangspositionen haben, um ihren Fortbestand auch in Zukunft zu sichern als die bereits in früheren Rankings ins Hintertreffen geratenen Wissenschaftler, Fachbereiche, Hochschulen und Forschungsinstitutionen [vgl. dazu Richard Münch, „Qualitätssicherung, Benchmarking, Ranking. Wissenschaft im Kampf um die besten Zahlen.H-Soz-u-Kult 2009; Schimank 2005: „Die akademische Profession und die Universitäten: „New Public Management“ und eine drohende Entprofessionalisierung“ In: Thomas Klatetzki und Veronika Tacke (Hg.). Organisation und Profession. Wiesbaden: VS-Verlag für Sozialwissenschaften.]. Wenn nun Bestandserhaltung an die Stelle der Funktionswahrnehmung tritt, lässt sich argumentieren, dass Wissenschaft als „Elitewissenschaft“ mit dem Regime des „New Public Managment“ (NPM) und „Total Quality Managment“ (TQM) ihre soziale Funktion nur unzureichend erfüllt und deshalb durch ein neues Regime abgelöst werden muss, mit der Wissenschaft ihrer sozialen Funktion als Trägerin von Bildung, Forschung und Kultur besser gerecht werden kann.

3. Das Kapital der Wissensgesellschaft ist Wissen, das nur entsteht, wenn Lernende in einem aktiven Aneignungsprozess herumliegende Information in lebendiges Wissen transformieren. Nur durch einen Prozess der Aneignung durch einen Lernenden wird Information zu Wissen. Nur Wissen befähigt einen Akteur zum Handeln, d.h. zum Eingreifen in die Welt und zum freien Entscheiden. [Nico Stehr, 2003, Wissenspolitik, Frankfurt/Main: Suhrkamp, S. 31]. Was der Prozess der Aneignung konkret beinhaltet, hängt von den verfügbaren Kulturtechniken ab: z.B. lesen, schreiben, diskutieren, öffentlich aufführen oder remixen. Sind Informationen aus wissenschaftlichen Publikationen nicht öffentlich zugänglich, bleibt die Aneignung durch die potenziellen Nutzer aus, und was als wissenschaftliches Wissen für die Öffentlichkeit mühsam geschaffen wurde, verkommt zu toter Kultur [Georg Simmel 1919 „Der Begriff und die Tragödie der Kultur„. In: Philosophische Kultur, S. 223-253]. Damit wissenschaftliches Wissen nicht in Bibliotheken verstaubt, damit jeder eine Chance auf Zugang zu wissenschaftlichem Wissen und damit jedem entsprechende Teilhabechancen in der Wissensgesellschaft offenstehen (auch Jobchancen für die heutigen Kinder und Jugendlichen bei ihrem Berufsstart), müssen die Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung für Jedermann kostenlos und barrierefrei für Jedermann zugänglich gemacht werden.

Kein Wunder also, dass es bereits Ideen gibt, per Petition beim Bundestag den Gesetzgeber zu veranlassen, dass wissenschaftliche Publikationen, die aus öffentlich geförderter Forschung hervorgehen, innerhalb einer angemessenen Frist allen Bürgern kostenfrei zugänglich gemacht werden müssen.

Weitere Quellen:

Update 02.09.09: Bundesjustizministerin Zypries hat sich in den sich im Rechtsstreit um den Vergleich zwischen Google und Urhebern über das Digitalisieren von Büchern eingeschaltet, mit der Forderung, deutsche Autoren und Verleger aus dem Vergleich herauszunehmen (Heise online).

10 Antworten zu “Wer verbreitet wissenschaftliche Information in der Wissensgesellschaft des Internet?

  1. Letztlich und lanfristig ist es wohl gut, wenn die VG Wort den „walled garden“ hochzieht. Nur dann beginnen die Skeptiker und Google-Spötter zu verstehen, was es heißt, wenn die Aufmerksamkeit eingeschränkt wird zugunsten offener Quellen. Ich bin dafür, dass jetzt alle Bedenkenträger ihren rigiden Stupor voll ausleben. Dann können wir in fünf Jahren oder eher viel früher wie normale Menschen über solche Themen reden und auch gleich solche prädemokratischen Institutionen wie die VG Wort in etwas Transparentes verwandeln. Die Musiker könnte das bei der GEMA wohl schon früher gebrauchen. Jetzt kommt endlich die volle Wucht der Arbeitsteilung und der Bequemlichkeit über uns.
    Cut out the middleman.

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  5. Danke für die freundlichen Kommentare 🙂 Das Thema wird natürlich weiter verfolgt. Es wäre schön, wenn wir diejenigen, die anderer Meinung sind, von der Richtigkeit unserer Argumente überzeugen und sie auf diesem Weg mitnehmen könnten.

  6. Pingback: Stephan Rosenke (rosenke) 's status on Tuesday, 01-Sep-09 22:17:04 UTC - Identi.ca

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  9. Pingback: Google Books und Open Access – Der Schockwellenreiter

  10. Die Universität Harvard bietet seit dem 01.09.09 ein zentrales Open Access Repositorium DASH an, wo Publikationen aus verschiedenen Journals (derzeit 2) in Volltext mit einer Creative Commons Lizenz angeboten wird. Langfristiges Ziel ist es, das Repositorium voll in die Onlinetools der Wissenschaftler zu integrieren, sodass die Informationen, die ein Wissenschaftler in seiner CV speichert, in DASH übertragen werden und umgekehrt. Erläuterungen hier. [via Eszter, Berkmancenter]

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