Kleines Fragment über die iranische Protestbewegung und Social Media

Video via Lieber Nichts

Die Protestbewegung um den Präsidentschaftskandidaten Moussavi, welche im Juni angetrieben vom Verdacht des Wahlbetrugs auf die Straße ging und vom Regime um Präsident Ahmadinejad blutig niedergeschlagen wurde, hat seit Anfang Dezember wieder Fahrt aufgenommen. Wieder geht das iranische Regime mit äußerster Brutalität gegen seine eigene Bevölkerung vor. Wie im Juni ist es dem iranischen Regime trotz Abschaltung der Mobilfunknetze und trotz Reduzierung der Internet-Übertragungsraten auf ein Minimum jedoch nicht gelungen, den Nachrichtenstrom in die weite Welt zu verhindern.

Drei Faktoren machen Social Media, besonders den Microbloggingdienst Twitter, zu einer Technologie, mithilfe derer die iranische Protestbewegung das Regime um Präsident Ahmadinejad  aus dem Feld schlagen könnte:

  • Der erste Faktor ist die technische Infrastruktur, genauer die offene Programmierschnittstelle (API). Sie sorgt dafür, dass die Nachrichtenübertragung nach dem Duschkopfprinzip funktioniert. Jede Verbreitung von Nachrichteninhalten bringt eine Vervielfältigung bis ins Unendliche mit sich. Ein Twitterer schreibt eine Nachricht mit dem Hashtag #Iranelection nieder, und seine Nachricht kann über tausende Kanäle an unendlich viel URL-Adressen abgerufen werden. Dank der offenen API können Nachrichten global verbreitet werden, selbst wenn ein totalitäres Regime mit Filtertechnologien Zugänge und Webseiten sperrt, z.B. mit Twazzup. Die Zensur lässt sich damit leicht überwinden. Wann immer Auslandskorrespondenten in Teheran Ausgangssperre bekommen oder des Landes verwiesen werden, schaffen es die Meldungen und Bilder aus dem Iran bis in unsere Nachrichten.
  • Ein zweiter Faktor ist die demografische Struktur der iranischen Bevölkerung. Die hochgebildete iranische Jugend trotzt ihrer Unterdrückung, indem sie ein zweites Leben im Netz führt. Zwei von drei Bürgern im Iran sind jünger als 30 Jahre. Die jungen Iraner sind Kinder der islamischen Revolution und wissen sich mit Social Media Technologien bestens mitzuteilen (Lieber Nichts; APuZ 49/2009).
  • Einen dritten Faktor hat Donald McKenzie in seinem Buch „An Engine not a camera – How Financial Models shape Markets“ (2007), einer finanzsoziologischen Studie, in anderem Zusammenhang aufgezeigt. Mit Performativität bezeichnet McKenzie den Zusammenhang, dass ein bestimmter Wissensgehalt (im Buchbeispiel das Black-Scholes-Merton Model, eine zu Prognosezwecken entwickelte mathematische Formel) den Gegenstand, auf den sie sich bezieht (z.B. Wertentwicklungen von Anlagen auf Finanzmärkten) nicht nur beschreibt, sondern selbst maßgeblicher Bestimmungsfaktor für die Wertentwicklung von Finanzanlagen auf wird. Ein bestimmter Wissensgehalt kann sich über einen längeren Zeitraum bewahrheiten oder auch verfälschen, je stärker sich alle Akteure bei ihren Kauf- und Verkaufsentscheidungen darauf beziehen. Überträgt man die These von der Performativität auf die iranische Protestbewegung, dann sind Internet und Social Media ebenfalls nicht nur Kamera, welche die iranische Protestbewegung abbilden, sondern Motor der Entwicklung. Der unablässige Strom von Twittermeldungen, Blogbeiträgen, Fotos und Videos treibt die Menschen erst recht auf die Straße, weil sich jeder selbst von ihrer globalen Sichtbarkeit und Wirkung in den westlichen Medien selbst überzeugen kann (wie z.B. Google, BBC, CNN, SPIEGEL,  NYT Blog). Jeder Einzelne ist sich bewusst, welche Risiken er auf sich nimmt, wenn er auf die Straße geht oder ins Netz schreibt. Aber das Wissen um die globale Verbreitung selbstproduzierter Inhalte, die Message des unablässigen Echtzeitstroms von Mediendokumenten, vor allem der Tatbestand, dass wir alle mitlesen, dass unsere Nachrichtensen die teils erschütternden Botschaften aus dem Iran verarbeiten, verleihen der Protestbewegung eine solche Schubkraft und moralische Legitimation, dass das Regime zunehmend unter Druck gerät.

Bestimmt werden sich Demonstranten, die für ihre Freiheitsrechte soviel auf sich nehmen, nicht wieder heimschicken lassen. In diesem Jahr kamen leider soviele erschütternde Nachrichten aus dem Land, dass man dem iranischen Volk für 2010 nur alles Glück der Welt und ein in Frieden und Freiheit wünschen kann.

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