„New #TSA rule: Passengers to be handcuffed to seats. Frequent fliers will be given keys“, „New #TSA rule: Babies no longer permitted to sit on laps. Must fit into overhead compartments“ und “Repeat tweet from yesterday: I renew my 12/01 call to fly naked” waren nur einige der Tweets von Jeff Jarvis gestern abend. BoingBoing und Gizmodo unterbreiten den Vorschlag, gleich die amerikanische Sicherheitsbehörde TSA zu feuern. Nach dem Terroralarm auf Delta Airlines Flug 253 am 25. Dezember, als ein junger Nigerianer beim Versuch überwältigt wurde, einen Airbus auf dem Flug nach Detroit mit Nitropenta (PETN) in die Luft zu sprengen, ist zwei Tage ein Flugpassagier nach der Landung wegen auffälligen Verhaltens festgenommen worden. Er habe sich eine Stunde lang in der Bordtoilette eingeschlossen, verlautete aus Polizeikreisen. Nach der Landung sei er verbal ausfällig geworden. Ein Sprecher des Flughafens von Detroit sagte, der Pilot habe nach der Landung Unterstützung angefordert [CNN, ARD, Der Westen].
Inzwischen steht amerikanische Sicherheitsbehörde am Pranger und reagiert mit Aktionismus. Über die Liste verbotener Gegenstände, das Tütchenpacken und die Gepäckscanner am Flughafen hinaus werden an Bord neue Restriktionen eingeführt. Bei Flügen in die Vereinigten Staaten sollen die Fluggäste kein Handgepäck mitnehmen oder eine Stunde vor der Landung keinen Zugang zu ihren Gepäckstücken in der Flugkabine haben [NYT, NYT2, ZDF, CBS, BBC, SPIEGEL]. Techcrunch deutet mit Hinweis auf Twittermeldungen von Charlene Li an, dass man auf internationalen Flügen demnächst keine mitgebrachte Bordelektronik mehr betreiben darf: „New flight rules – Body search, no electronics apply only to int’l flights to US. Just landed in ORD from Canada, missed connection“ und „So no Kindle, no laptop on int’l flights into US. My kids slept and read a good book. I worked on my book–with a pen & paper“.
Um zu verhindern, dass sich Attentäter auf eine bestimmte Methode der Vorbereitung von Anschlägen spezialisieren, will die TSA mit ständig wechselnden Einschränkungen und Spezialkontrollen ein für Terroristen unberechenbares Sicherheitsnetz schaffen. Für die Passagiere bedeutet das z.T. erheblich längere Wartezeiten. Fernsehsender berichten über lange Warteschlangen an den Flughäfen und entsprechend ungehaltene Fluggäste im Hinblick auf ein Kontrolltheater, das den Eindruck von Sicherheit vermitteln soll, aber von Terroristen offenkundig bisher relativ mühelos umgangen werden kann. So werden Flugreisen zu einer unproduktiven und nervenraubenden Zeit, und auf fragwürdige neue Kontrollmethoden reagieren Reisenden zunehmend verärgert. Eine Flugreise wird zu einer zeitraubenden, langweiligen, zugleich nervenaufreibenden Aktivität, bei der manch einer vor Reiseantritt am liebsten einen Katheter verpasst haben möchte.
Terrorismus in lernenden Netzwerken
Den Terrorismus macht gefährlich, dass die Gruppierungen nur über ihre Ideologie und in losen Netzwerken verbunden sind, aber nicht unter dem Dach einer formalen hierarchischen Organisation operieren. Die für Netzwerkorganisation charakteristische eine Kombination aus engen Verbindungen, entfernten Kontakten und indirekte Verknüpfungen über Dritte machen sich Terroisten zunutze, um ihre Anschläge vorzubereiten. So können sie gut beobachten, welche Maßnahmen Sicherheitsbehörden zu ihrer Bekämpfung ergreifen. Vor allem handelt es sich um lernfähige Netzwerke aus beweglichen Akteuren, die aus den Maßnahmen der Sicherheitsbehörden Rückschlüsse für neue Attentatsversuche ziehen. Man sollte sich also nicht zu der leichtfertigen Schlussfolgerung verleiten lassen, ein Einzeltäter wie der NWA Flug 253 sei weniger gefährlich als eine Gruppe. Denn je kleiner Gruppen und Einheiten terroristischer Vereinigungen sind, desto geringer ist aus ihrer Perspektive die Gefahr, bei eigenen Reisetätigkeiten, bei der Koordination geplanter Aktivitäten über das Internet aufzufliegen oder gar beim Anbahnen neuer Kontakte an verdeckte Ermittler zu geraten. So gesehen ist ein Einzeltäter besonders gefährlich, weil er radikalisiert durch eine Ideologie alle Schritte selbst plant und durchführt.
Doch wie die Terroristen lernfähige Netzwerke bilden, müssen dies auch die Sicherheitsbehörden, Polizeidienste Fluggesellschaften tun. Sie müssen Informationen, sammeln, bündeln, evaluieren, professionelle Netzwerke etablieren, die grenzüberschreitend Informationsaustausch betreiben, Erfahrungen austauschen und mögliche nächste Schritte antizipieren. Immer wieder erscheinen die Sicherheitsbehörden eher als Tanker, die wechselnden Strategien der Terroristen nur verzögert folgen und bisweilen in einem fragwürdigen Technikdeterminismus auf Überwachungstechnik setzen, wie die neuerliche Debatte um den möglichen Einsatz des Nacktscanners zeigt [WIRED, SPIEGEL].
Welches Verhältnis von Vertrauen und Kontrolle schafft mehr Sicherheit?
Am Ende eines ziemlich hysterischen Jahrzehnts müssen wir eingestehen, dass wir ohnehin schon immer unter Bedingungen der Unsicherheit gelebt, gearbeitet, gewohnt, gewirtschaftet haben und das Reisen stets eine nicht ganz ungefährliche Sache war. Die Unsicherheit über einen Terroranschlag bei einer Flugreise kann nur bis zu einem gewissen Grade durch rationale Kalkulation (z.B. Datenanalyse), Überwachungstechnologie, verschärfte Kontrollen (z.B. Flughafenkontrollen, Air Marshalls) oder auch Einschränkung der in Dutyfree-Bereichen erhältlichen Produkte erzielen, aber ganz sie verschwindet damit nicht. Von FivethirtyEight lernen wir, dass das Risiko, auf einem US-Inlandsflug Opfer eines Terroranschlags zu werden, immer noch geringer ist als die Wahrscheinlichkeit, vom Blitz erschlagen zu werden.
Mehr Sicherheit entsteht nicht in einer Stimmung der Hysterie, aber es gibt eine faire Chance, dass mehr Vertrauen mehr Sicherheit schafft. Damit meine ich nicht die Arglosigkeit des Passagiers, der beliebige Informationen durch die Flugkabine trällert, nicht die Crew, die im Ernstfall überrumpelt wird und auch nicht Sicherheitsbehörden, die wenig informiert Aktionismus betreiben, um im Licht der Öffentlichkeit als „Macher“ zu erscheinen. Vielmehr meint Vertrauen hier den intensiven Informationsaustausch an geeigneter Stelle, ein sehr vorsichtiges, zwischen professionellen Partnern gut abgestimmtes Vorgehen, und erfahrene Passagiere, die das richtige Maß zwischen Aufmerksamkeit und Besonnenheit finden.
Als Passagier möchte ich selbst vertrauen können, dass Sicherheitsbehörden und Airlines grenzüberschreitend intensiven Informationsaustausch betreiben, dass die Crews der Fluggesellschaften eingespielte Mannschaften sind, dass sie in speziellen Trainings auf gefährliche Situationen vorbereitet werden. Umgekehrt müssten Sicherheitsbehörden und Fluggesellschaften für mehr Sicherheit ein Mindestvertrauen in die Reisenden setzen und dazu Erwartungen an die Reisenden kommunizieren: aufmerksam zu sein, ohne gleich in Hysterie zu verfallen, im eigenen Interesse für mehr Sicherheit zu kooperieren. Immerhin ist es der Aufmerksamkeit und Entschlossenheit der Passagiere zu verdanken, dass der Anschlag auf NWA Flug 253 während der versuchten Durchführung verhindert werden konnte. Solange man noch hoffen darf, in Gesellschaft Mitreisender wie Jasper Schuringa aus den Niederlanden zu reisen, besteht Grund zur Zuversicht. Tim O’Reilly twittert „Useful reminder: Heroic passenger now in violation of TSA’s new rules http://bit.ly/86vlO9 Some rules are meant to be broken….”.
Am Ende wird mehr Freiheit mehr Sicherheit bringen: Im entscheidenden Moment rettet genau das Aufspringen aus dem Sitz, das Eingreifen mit bloßen Händen, der Anruf oder die SMS Menschenleben. Auch bricht sich niemand einen Zacken aus der Krone, den Behörden bei Bedarf die während eines Fluges angefertigten Mediendokumente zu übergeben, sie könnten wertvolle Ermittlungshinweise liefern. Und es gibt Situationen, wo ein Passagier im Nachhinein nicht mehr begründen kann, weshalb er dieses und nicht jenes tut. Statt auf immer mehr Datenerhebung, Überwachungstechnologie und Kontrolle zu vertrauen, sollten die Behörden normale Bürger als Schlüssel für mehr Sicherheit betrachten.
UPDATE 30.12.09: Inzwischen war zu erfahren, dass derVater des Terroristen vom 25.12.09 mehrfach persönlich mit dem CIA Kontakt aufgenommen und vor seinem Sohn gewarnt hat [CNN1], dass ein Bericht über das Treffen verfasst, jedoch in Sicherheitskreisen nicht in angemessener Weise weitergegeben wurde. Präsident Obama spricht von einer Mixtur aus systemischem, organisationalem, persönlichen und technischen Versagen [CNN2]. Da scheint also noch viel zu tun zu sein. Als einfacher gelegentlicher Flugpassagier stelle ich mir außerdem folgende Frage: Wenn es möglich ist, wie ZDF-Terrorismusexperte Elmar Thevessen gesagt hat, dass sich jemand nach Passieren der Sicherheitskontrollen im Dutyfreebereich alle für einen Anschlag notwendigen Dinge beschafft – weshalb schafft man dann nicht einfach die großen Shoppingzonen im Anschluss an die Securitychecks ab? Schließlich gibt es genug andere Möglichkeiten zum Shoppen.