Die Ökonomie des Konsums – der Konsum in der Ökonomie

Was haben der Golf Blue Motion, ein Regal aus der Ikea-Serie Billy, ein Nespresso-Kaffeeautomat, eine All-Inklusive Reise nach Fuerte Ventura, ein Los der Aktion Mensch, das I-Phone und die Bahncard 50 gemeinsam? Wer eines dieser Produkte kauft, hat eine Entscheidung getroffen für diese und gegen andere Konsumoptionen, freilich auf unterschiedlichen Niveaus finanzieller Möglichkeiten. Die individuelle Entscheidung für den Kauf bestimmter Güter impliziert Präferenzordnungen, Wertzuschreibungen, ethisch-moralische Grundsätze. Sie ist sozial und kulturell überformt, und sie hat Kon­sequenzen den sozialen Status und die Lebenslage des Einzelnen betreffend. Darüber hinaus wirkt sie sich auf der anderen Seite Wirtschafts­geschehens – bei Produktion, Erwerbsarbeit und Distribution – aus.

Im Berliner Harnack-Haus der Max-Planck-Gesellschaft fand am 06. und 07. November 2009 eine gemeinsame Tagung der DGS-Sektion Wirtschafts­so­ziologie und der AG Konsumsoziologie zum Thema „Die Ökonomie des Konsums – der Konsum in der Ökonomie“ statt. Ausgehend von 9 Arbeitspapieren über die Zusammenhänge von Kon­sum und Wirtschaft haben wir Gemeinsamkeiten von Wirtschafts- und Konsumsoziologie so­wie Möglichkeiten der Zusammenarbeit beider Arbeitsbereiche diskutiert.
[Hier werden aus Zeitgründen 7 Papiere vorgestellt – klar sind alle Vorträge empfehlenswert. Die Tagungsorganisation wird die Paper Library zu einem späteren Zeitpunkt öffentlich bereitstellen]

Ed Fischer diskutierte in seinem Beitrag „German Eggs and moral provenance“ kulturtypische Konsumpräferenzen der Verbraucher in Deutschland auf Grundlage einer ethnografischen Vorgehensweise mit Befragungsdaten im Stadtteil Südstadt von Hannover. Die Befragung bezieht sich auf den Kauf von Eiern. Der Verbraucher, argumentiert Ed Fischer, ist nicht bloß ein rational nutzenmaximierender, kosten­minimierender isolierter Einzelner, der seine Entscheidungen rein bezogen auf Preise trifft. Vielmehr weisen die Konsumentscheidungen von Individuen Bezüge zu gemeinsam geteilten Werten auf, die ein Handeln weit über die reine Zweckrationalität und das Eigeninteresse des Akteurs hinaus implizieren. Ökonomische Entscheidungen werden in moralische Projekte ein­ge­bunden. In der Befragung wurden die Befragten auf dem Bürgersteig vor einem Supermarkt angesprochen und darum gebeten, sich selbst als Shopper auf einer Skala von 1 (nicht)  zu beschreiben: Gehen sie gezielt einkaufen? (Durchschnitt 3,80) Sind sie preisbewusst? (Durchschnitt 3,72) Kaufen sie sozial bzw. ökologisch bewusst ein? (3,43) Kaufen sie sparsam? (3,25) Sind sie Spontankäufer? (3,14) Kaufen sie zufällig? (1,98). Weiter wurden die Verbraucher dazu befragt, worauf es ihnen beim Kauf besonders ankommt: Qualität (4,11), Preis (3,67), Umweltfreundlichkeit (3,66), Ursprung eines Gutes (3,15), soziale Bedingungen bei der Produktion (Beispiel Fair Trade) (3,16), Qualitätssiegel (3,15), Bequemlichkeit (2,64). Dieser Befund steht im Kontrast zu der in den USA verbreiteten Überzeugung, dass Verbraucherentscheidungen durch Preis, Qualität und Bequemlichkeit bestimmt. Erwartungsgemäß ist das Einkommen der bedeutendste Bestimmungsfaktor für die Konsumpräferenzen: Die Qualitätspräferenz ist in der Käufergruppe mit einem Einkommen über € 72.000 pro Jahr mit Abstand stärker als in den mittleren Einkommen, ebenso wie die Bevorzugung von Bio- und Ökoprodukten. Zusätzlich wurden die Verbraucher auch gefragt, welche Kategorie von Eiern sie kaufen. Von den Respondenten gaben 26 % an, Eier der Ka­te­gorie 0 (freilaufende Hühner) zum Durchschnittspreis von 3.79€ zu kaufen. 33,6% ant­wor­te­ten, dass sie Eier der Kategorie 1 (aus großen Käfiganlagen) zum Durchschnittspreis von 1,99 € kaufen. 12,4 Prozent gaben an, dass sie Eier der Kategorie 2 (Käfighaltung) zum Durch­schnitts­preis von 1,59 € kaufen. Immerhin 13,4 % der Befragten gaben an, Eier der Kategorie 3 (Käfighaltung) zum Durchschnittspreis von 1,39 € zu kaufen. Und 8% der Befragten antworteten, dass sie Eier vom Bauern zum Durchschnittspreis von € 2,50 kaufen.  Fischer kommt zu dem Ergebnis, dass man die Entscheidung für bzw. den Kauf von Eiern der genannten Kategorie in Verbindung mit ihren Moral- und Wertvorstellungen bringen kann. Fischer kommt zu dem Schluss, dass die deutschen Verbraucher der moralischen Herkunft von Gütern eine hohe Wichtigkeit beimessen und bei ihren Kaufentscheidungen bestrebt sind, zum Gemeinwohl beizutragen. In der Besprechung wurde zum einen die auf den Einzelnen fokussierte Zugangsweise, zum anderen die empirische Grundlage für die weitreichenden Schlüsse des Autors thematisiert: Damit Käufer eine Kaufentscheidung mit Bezug auf Haltungsbedingungen der Hühner nach ökologischen Kriterien treffen können, müssen die Eier entsprechend markiert sein. Dazu bedarf es politischer Entscheidungen.  Dazu müssen die Eier zudem korrekt markiert sein. Daraus ergibt sich das Problem, ob man der korrekten Markierung der Eier trauen kann. Hinzu kommt, dass Moralvorstellungen und Wertcommitments einzelner Akteure nicht im luftleeren Raum zustande kommen, sondern über lange Zeiträume in der Wirtschaftspraxis bzw. Konsumpraxis gebildet werden. Ausschlaggebend für die Moralvorstellungen und Wertcommitments, die ein Einzelner überhaupt entwickelt, sind der soziale Kontext etwa der sozialen Netzwerke, in welche der Einzelne involviert ist – etwa das Netzwerk von Wirtschaftsbeziehungen vor Ort – die Institutionen – etwa die Kennzeichnung von Produkten – und Kognitionen – etwa gemeinsam geteilte Vorstellungen davon, wie Produktion, Erwerbsarbeit und Distribution rund um das Produkt organisiert sind und organisiert sein sollten. Um Aspekte wie diese zu erfassen, wäre über Befragungsdaten hinaus eine breitere Datenbasis erforderlich. Die Datenbasis der Befragung von Fischer liegt mit  n = 114 nur knapp über der Grenze, ab der man Angaben in Prozent macht. Zudem können die Befragten ihr Kaufverhalten in einer Befragungssituation in idealisierter Form darstellen. Weil Effekte von sozialer Erwünschtheit wirksam sein können, sollten Befragungsdaten die Darstellung des Kaufverhaltens auf Inkonsistenzen überprüfen. Weil Effekte von sozialer Erwünschtheit das Antwortverhalten erheblich beeinflussen können,  sollte eine empirische Untersuchung das tatsächliche Handeln der Verbraucher im Rahmen eines qualitativ empirischen Unter­suchungsdesigns einbeziehen.

Sebastian Koos ist der Frage nachgegangen, weshalb Menschen Produkte aus ethischen, politischen oder ökologischen Gründen kaufen oder boykottieren. Eine moralische Ökonomie des Konsums bedeutet in seinen Augen, dass Moralvorstellungen und Präferenzen den Markt durchdringen und die Entscheidung beeinflussen, welche Güter ein Verbraucher kauft oder boykottiert. Um diese Frage empirisch zu untersuchen, verwendet Koos Daten aus dem European Social Survey aus dem Jahr 2002/03 für eine Querschnittsuntersuchung in 19 europäischen Staaten. Mit Bezug auf die Low-Cost-Hypothese überprüft er folgende Behauptungen: H1a: In den wohlhabenden Ländern ist der politische Konsumerismus starker ausgeprägt als in den ärmeren europäischen Ländern.  H1b: Personen der höheren Klassen beteiligen sich mit höherer Wahrscheinlichkeit am politischen Konsumerismus, d.h. sie sind eher bereit, Produkte aus politischen Erwägungen zu boykottieren. H1c: Werte, Normen und Präferenzen haben eine höhere Erklärungskraft in wenig riskanten Situationen als in Situationen, wo es wirklich drauf ankommt. Mit Bezug auf die These von einer moralischen Autonomie überprüft er die Hypothese H2: Moralvorstellungen wie Solidarität, Umweltbewusstsein und generalisiertes Vertrauen befördern den politischen Konsumerismus. Eine ausgeprägte materialistische Orientierung vermindert die Wahrscheinlichkeit, dass man sich am politischen Konsumerismus beteiligt. Schließlich überprüft Koos die Hypothese, dass wirtschaftliche Globalisierung den politischen Konsumerismus befördert, dass Personen mit ausgeprägtem politischen Interesse sich eher am politischen Konsumerismus beteiligen und dass sich am ehesten die Personen am Boykott bestimmter Güter beteiligen, bei denen das Vertrauen in politische Institutionen und die Politiker am geringsten ausgeprägt ist. Im Ergebnis verwirft Koos die Globalisierungshypothese. Wirtschaftliche Globalisierung ist kein wesentlicher Bestimmungsfaktor für ethisch-moralisch motivierten Konsum. Wohlstand hat einen positiven Effekt auf moralischen Konsum  (Bereitschaft positiv zu kaufen oder Produkte aus bestimmten Ländern zu boykottieren). Soziale Bewegungsorganisationen haben einen positiven Effekt für politischen Konsumerismus. Die politische Kultur in einem Land und das Entwicklungsniveau des organischen Marktes (Bio, Öko, fair gehandelt etc.) erweisen sich als bessere Bestimmungsfaktoren, denn sie machen die Verfügbarkeit moralisch höher bewerteter Produkte aus.  Auf der individuellen Ebene erweisen sich Moralvorstellungen, v.a. das Umweltbewusstsein, als wesentlicher Bestimmungsfaktor. Politisches Interesse der Respondenten erscheint wesentlich, doch müsste noch mehr geforscht werden, in welche Richtung es sich auswirkt: z.B. in Richtung der positiven Bereitschaft, Produkte einer bestimmten Kategorie zu kaufen (um ihnen einen Markt zu bereiten) oder moralisch negativ besetzte Produkte zu boykottieren. Im Anschluss wurden Fragen wie diese diskutiert: Das mögliche Problem einer kognitiven Überforderung sinnvoll und widerspruchsfrei zu begründen, weshalb man bestimmte Produkte kauft und andere boykottiert, die Notwendigkeit der Berücksichtigung von Kontextfaktoren wie z.B. Haushaltsstruktur (Kinder im Haus?), die Frage ob wirklich jeder weiß, was Boykott bedeutet etc. Auch ergeben sich vielfältige Anschlussfragen: Gibt es zum Beispiel Cluster (Länder mit ähnlichen Merkmalen) entlang der Wohlfahrtsregime und der Spielarten des Kapitalismus (liberale Ökonomien, koordinierte Ökonomien)? Welche Rolle spielen Medien? „Swissness“ bedeutet beispielsweise, dass die Schweizer bewusst Produkte aus ihrer eigenen Produktion kaufen, was im Umkehrschluss bedeutet, dass sie Produkte aus deutscher Produktion meiden. Auch sind Fragen nach der Überformung des Kauf- bzw. Boykottverhaltens durch Bildung und Geschlecht noch nicht beantwortet.

Yusif Idies stellt in seinem Papier „Ethischer Konsum als Dispositiv. Zur „sichtbaren“ Geografie der Welt“ Vorüberlegungen zu einem Forschungsprojekt an, welches sich mit dem Interesse an moralischem bzw. ökologischem Konsum beschäftigt und „Geiz ist geil, und Shoppen macht Spaß. Aber ist Einkaufen wirklich nur ein Privatvergnügen? Oder ist es, aller Werbung und Imagepflege zum Trotz, eine Entscheidung so wichtig wie jede Kanzlerwahl? Interessiert uns wirklich nicht, warum ein handgewebter Teppich 1,95 Euro kostet und wo die vier Euro für den Starbucks-Kaffee landen?“. Allein das Erscheinen von Büchern wie „Die Einkaufsrevolution“ von Tanja Busse, aber auch Filme wie „We feed the world“ (Erwin Wagenhofer, 2005) reizen Idies zu der Frage nach dem Ursprung des Interesses der Menschen für moralische Herkunft von Gütern und Dienstleistungen. Die neue Haltung der Verantwortung im Konsumhandelen erscheint evident, aber sie ist keineswegs selbstverständlich. Die Erscheinung der Figur des ethischen Konsumenten, der mit dem Einkaufswagen abstimmt, wird kaum kritisch hinterfragt. Da ist beispielsweise die Idee des ermächtigten Konsumenten, der ab einem bestimmten Zeitpunkt Kenntnis von seiner Macht als Käufer erlangt, dem Konsumenten, der Aufträge erteilt und dadurch die Produktionsbedingungen nachgefragter Güter und Dienstleistungen mitbestimmt, oder auch dem Konsumenten, der zwischen feierlicher Ablehnung ökologischer und moralischer Standards und resigniertem Einlenken schwankt. In den Kommentaren im Anschluss haben die Teilnehmer die diskursive Annäherung an den Konsumenten mit Bereitschaft zu moralischem Verhalten hervorgehoben und angeregt, nach der diskursiven Ordnung in einem Marktfeld zu suchen. Welchen Akteuren gelingt es, eine Aussage wirksam platzieren, sodass ein Signal für andere Akteure ausgeht? Wer hat überhaupt einen Platz in einem Feld? Es folgte eine Diskussion über die Relevanz moralischer, ethischer, ökologischer und politischer Orientierungen für die Theoriebildung und zur Frage, ob die Moralisierung des Konsums historisch neu ist bzw. was die gegenwärtige Moralisierung des Konsums ausmacht.

Mark Lutter stellte Ergebnisse einer Untersuchung über den Lotto- und Glücksspielmarkt in Deutschland vor, die er im Rahmen seiner Dissertation durchgeführt und u.a. Beiträgen in der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie gemeinsam mit Jens Beckert publiziert hat (2007, „Wer spielt, hat schon verloren?“, KZfSS 59, S. 240-270 und 2008, „Wer spielt Lotto?“, KZfSS 60, S. 233-264). Der Glücksspielmarkt mit Lotto, Toto, Glücks­spirale, Online-Lotterien, Klassenlotterien, TV-Lotterien, Geldautomaten und Spielbanken hatte 2005 einen Gesamtumsatz von ca. 30 Mrd. Euro. Die Nachfrage ist erklärungsbedürftig, gilt doch ein Glücksspiellos als beinahe todsichere Möglichkeit, Spieleinsätze zu verlieren. Dennoch sind Lotterien ein Massenmarkt. Rund 40 Prozent der erwachsenen deutschen Wohnbevölkerung beteiligt sich mindestens einmal jährlich an der Ziehung „6 aus 49“. Etwa 10 Millionen Menschen spielen wöchentlich. Jede Woche nehmen die Lotteriegesellschaften rund 100 Millionen Euro ein. Lutter unterscheidet 4 Erklärungsansätze für die Nachfrage am Glückspielmarkt: (1) Kognitionspsychologische Ansätze erklären die Teilnahme am Glücksspiel aus dem kognitiven Unvermögen der Spieler, die statistischen Eigenschaften des Spiels adäquat zu beurteilen. (2) Ökonomische Ansätzen zufolge ist die Nachfrage nach Losen trotz negativer Renditeerwartung eine rationale Investition. (3) Soziologische Theorien des Spannungsmanagements führen die Spielteilnahme auf Deprivationserfahrungen der Spieler zurück. (4) Sozialstrukturelle Ansätze die Nachfrage nach Lotterien aus der sozialen Netzwerkeinbettung der Spieler. Als fünften Ansatz fügt Lutter die Theorie der Tagträume hinzu, die Lotterien als „Baugenehmigungen für Luftschlosser“ trotz objektiver Wertlosigkeit eines Lottoloses. Auf Grundlage einer repräsentativen telefonischen Befragung unterscheidet Lutter 5 Spielertypen: (1) „aufstiegsorientierte Tagträumer“, (2) „auswegsuchende Tagträumer“, (3) „nüchterne, rituell-gewohnheitliche Investitionsspieler“, (4) „sozial motivierte Gelegenheitsspieler“ und (5) „desillusionierte Fatalisten“.  Die Bestimmungsfaktoren für die Nachfrage auf dem Lottomarkt sind soziale Spannungszustände, soziale Netzwerke und die Theorie der Tagträume, die Lotterien als Baugenehmigungen für Baugenehmigungen für Luftschlösser charakterisiert. In der Diskussion  haben Teilnehmer gegen die These der vermeintlichen Wertlosigkeit des Lottoloses eingewandt, dass dem rein funktionalen Gebrauchswert auch ein symbolischer Gebrauchswert gegenübersteht. Muss das Konzept des Nutzens nicht erweitert werden: Sind Lottolose wie symbolische Güter (z.B. Besuch eines philharmonischen Konzerts) nutzlose Güter? Weiter wurde die Frage gestellt, was zuerst da war: Sind zuerst die Tagträume da, die den Menschen zum Kauf eines Loses motivieren? Oder steht die Glücksspielteilnahme am Beginn einer Chronologie, in deren weiteren Verlauf die Tagträume folgen? Schließlich wurde auch das Problem der sozialen Konstruktion der Sucht angesprochen, die in Lutters Untersuchung das Phänomen der Sucht nicht angesprochen wird. Sind Tagträume Luftschlösser, oder sind es Phantasien, wo die Frage der Realisierbarkeit keine Rolle spielt? Wie legitimieren z.B. Lottospieler ihre Spielteilnahme bzw. ihre Spieleinsätze, wo der gesellschaftliche Vorwurf der Sucht (und die Idee der Therapierbedürftigkeit der Spieler) im Raum steht – etwa im Unterschied zu Spielern von Onlinespielen, die im öffentlichen Diskurs zunehmend mit Sucht assoziiert werden?  Wie Mark Lutter mir am Rande erzählte, ist das Konstrukt der Suchtgefahr der Grund, weshalb der Lotto- und Glücksspielmarkt in Staatshänden liegt bzw. unter staatlicher Regulierung steht. Eine einheitliche Regelung für soziale Aktivitäten, die im öffentlichen Diskurs zunehmend mit Sucht assoziiert sind und bei denen Geld involviert ist (z.B. Glücksspielmarkt, Markt für Onlinespiele wie z.B. „World of Warcraft“) gibt es aber nicht; ich könnte mir vorstellen, dass die soziale Konstruktion von Sucht und die dabei involvierten Akteure, Institutionen und professionellen Vereinigungen am Beispiel von Glücksspielmarkt und Onlinespielen spannende Forschungsprojekte hergeben würden.

Christof Jeggle hat sich mit Konsum in vorindustriellen Gesellschaften befasst und nimmt für seine Analyse die Entwicklung der letzten ca. 500 Jahre in den Blick. Jeggle geht es darum, die Kontinuitäten des Wirtschaftens und Konsumierens vom Mittelalter bis in die Gegenwart aufzuzeigen und Vorschläge zu unterbreiten, wie man den Konsum vor der Industrialisierung mit Ansätzen und Methoden der Wirtschaftssoziologie untersuchen kann. Was Konsum bedeutet, erörtert Jeggle im Rückgriff auf die ursprüngliche lateinische Bedeutung: Das Verb consumo lässt sich mit ‚verwenden„, ‚verbrauchen„, ‚wegnehmen„ bis hin zum ‚Verschwenden„, ‚Verschwinden„ und ‚Vernichten„ übersetzen. Consumptio bezeichnete den ‚Aufwand (etwas zu tun)„, aber auch ‚Verzehren„, folgerichtig waren consumptor und consumptrix Personen, die diese Aktivitäten ausübten. Johann Joachim Becher nahm den Begriff Konsum in seinen Politischen Discurs von 1688 auf und dem Konsum ein Potenzial für soziale Integration zuschreibt: die Consumption ist der einzige Bindeschlüssel welcher diese Stände – gemeint sind Kauffman, Handwercksman und Landman aneinanderbindet und hefftet und, vermittelt durch Geldzirkulation, das Wirtschaften ermöglicht. Die gegenwärtige Forschung über vorindustrielle Konsumgesellschaften ist überwiegend auf den Luxuskonsum fokussiert, nicht auf den gewöhnlichen Konsum. Entscheidend für eine Definition des Konsums ist ein weiterer Aspekt, der bereits im Victorianischen Großbritannien benannt wurde, nämlich Eigentum eines Gutes durch den Konsumenten. Weiter ist der Konsumbegriff in der Wirtschaftssoziologie eng mit dem Begriff der Kultur verknüpft: Konsum als spezifische kulturelle Praktik. Bisher fehlt allerdings eine einheitliche Begrifflichkeit für das Wirtschaften und den Konsum; die Beobachtungen bzw. Daten aus dem Mittelalter und der Gegenwart sind daher nicht vergleichbar. Bereits im Hochmittelalter stand eine Infrastruktur für Produktion und Distribution von Waren zur Verfügung; der Hochadel betrieb Interessenspolitik im europäischen Maßstab. Die norditalienischen Städte profitierten vom Handel mit hochwertigen Gütern aus dem Mittelmeerraum in den Norden. Dafür bezogen sie von dort zum Teil Rohstoffe wie Wolle – es gab also entwickelte Netzwerke von Abnehmer-Zulieferbeziehungen. Mit dem Warenhandel entstanden auch Formen des distanzübergreifenden bargeldlosen Zahlungsverkehrs. Ein weiterer Faktor war die Urbanisierung und eine sich zunehmend entwickelnde gewerbliche Produktion. Nach einer Phase der wirtschaftlichen Expansion wurde Europa Mitte des 14. Jahrhunderts Europa von einer Pestwelle heimgesucht. Diese führte je nach Region zu erheblichen Bevölkerungsverlusten, infolge derer es zu einer Konzentration von Vermögen kam. Nun wurde vermehr in Kulturgüter investiert. In dieser Entwicklung sehen die einen ein Krisensymptom und verschwenderische Fehlinvestition, andere einen innovativen Wandel des Wirtschaftens. Wann aber beginnt Konsum? Wann begegnet man den ersten Konsumenten im heutigen Wortsinn? Bisher verortet kein Diskussionsansatz das Auftreten des Konsums vor dem 14. Jahrhundert. Die Renaissance gilt als das Zeitalter, das den Ausgangspunkt für Handlungsrepertoires des Konsums gibt. Allerdings können Gegenstände aus den vorangegangenen Epochen – z.B. Kunstobjekte und dazugehörige Dokumente – Anhaltspunkte für sonst nicht dokumentierte Wirtschaftsweisen liefern: Arbeitsteilung, Herstellungsverfahren, Preisbildung, Moden etc. Die historische Forschung interessiert sich zudem für Haushaltsinventare von städtischer und ländlicher Haushalten und Haushalten der verschiedenen sozialen Schichten. Die englische Forschung interessiert sich zudem für den Konsum von Kulturgütern bzw. Luxuswaren. Etwa vom 17. Jahrhundert an entwickelt sich der Einzelhandel mit Shops als Verkaufsflächen, und es kann vom Shoppen als eigenständiger Tätigkeit gesprochen werden. Eng verknüpft mit dem Warenverkehr war der Kreditverkehr und soziale Netzwerke von Kreditbeziehungen. Bedingt durch die Uneinheitlichkeit und die knappe Verfügbarkeit des Bargeldes entwickelten sich Kreditbeziehungen und die Feststellung der Kreditwürdigkeit; Verschuldung war nicht ungewöhnlich. Auch gab es einen  regen Handel mit Gebrauchtwaren und eine hohe Bereitschaft der Menschen, bei Bedarf oder Notlage Gegenstände aus Edelmetallen zu „verflüssigen“ und in Bargeld auszumünzen, hochwertige Textilien zu verkaufen. Einerseits gab es keine entwickelte Medienwelt wie in der Gegenwart, das Informieren über Warenangebote, Qualitäten, Moden und Preise durch Kaufleute ist jedoch ebenfalls nachgewiesen. Im Folgenden unterbreitet Jeggle Anregungen, wie man die Praktiken und Netzwerkbeziehungen von Wirtschaft und Konsum mit den Mitteln der Wirtschaftssoziologie über sehr lange Zeitperioden untersuchen und somit Vergleichbarkeit zwischen vorindustriellen und gegenwärtigen Wirtschaftsformen her­stel­len kann. In der Diskussion wurde eingewandt, dass der genießerische Gebrauch von Gegenständen nicht erfunden wird, sondern vielmehr eine soziale Funktion erhält. Genuss als Steigerungsmotiv wird in eine gesellschaftliche Dynamik integriert, der Luxuskonsum wird entmoralisiert und tritt neben andere Formen des Verbrauchs. Eine schichtenmäßige Verbreitung von Gütern lässt sich nachzeichnen. Die kulturelle Dimension des Konsums wird deutlich, wenn das Nehmen und Bezahlen von Gütern thematisiert wird. Ein wesentlicher Punkt in der Diskussion war die Frage von Kontinuität und Diskontinuität der Entwicklung der Konsumgesellschaft. Wo mehrere historische Entwicklungen aufeinandertreffen, z.B. die Entwicklung der Konsumgesellschaft und die Entwicklung der Geldwirtschaft, schlägt die Kontinuität der Entwicklung der Konsumgesellschaft aufgrund der zunehmenden Abhängigkeit der Menschen von der Geldwirtschaft um, die auf Seiten der wohlhabenderen sozialen Gruppen primär neue Möglichkeiten und erweiterte Möglichkeitshorizonte, auf der Seite der ärmeren Gruppierungen neue Einschränkungen und Zwänge schafft.

Am Beispiel des Weinkonsums argumentieren Jörg Rössel und Simone Pape, dass es eine konsumbezogene soziale Strukturierung persönlicher Identitäten gibt. Damit ist gemeint, dass Personen Empfindungen von Unsicherheit und Angst haben, je nachdem ob sie das passende oder unpassende Produkt für ihren Konsum wählen. Dabei wird die These der Individualisierung des Konsums, wonach der Akt des Kaufens als ein von strukturellen Bindungen weitgehend losgelöstes Projekt ist, die individuell selbst-reflektive Konsumentscheidungen treffen, der These einer sozialen Strukturierung durch Lebensstile gegenüber gestellt, in die Konsummuster der Akteure sehr viel stärker durch Netzwerke, Lebensstile und sozialstrukturelle Bindungen bestimmt sind, sodass Konsumentscheidungen in deutlich geringerem Maße mit negativen Gefühlen verknüpft werden. In ihrer empirischen Untersuchung wählen Rössel/Pape den Weikonsum und überprüfen anhand von Befragungsdaten folgende Fragen: 1. Wie relevant ist Weinkonsum als Quelle von Identität und von Gefühlen der Unsicherheit? 2. Wie stark sind Weinidentität und auf den Weinkonsum bezogene Gefühle der Unsicherheit durch sozialstrukturelle Faktoren, soziale Netzwerke und Lebensstile geprägt? Dabei wurde eine allgemeine Bevölkerungsumfrage in der erwachsenen deutschen Wohnbevölkerung in vier deutschen Städten (Mainz, Wiesbaden, Köln, Hamburg) zu breitem Umfang Informationen zum Weinkonsum, zu den regionalen und anderen Geschmackspräferenzen, zu Einstellungen zum Wein, sozialen Kontexten des Weintrinkens sowie zu den sozialstrukturellen und demographischen Hintergrundbedingungen und den Lebensstilen der Befragten durchgeführt. Rössel und Pape kommen zum Ergebnis, dass es durchaus eine „Weinidentität“ gibt, diese jedoch auf bestimmte Bevölkerungssegmente beschränkt ist und bezogen auf die persönliche Identität auch keinen zentralen Stellenwert hat; die damit verbundenen Gefühle von Unsicherheit und Peinlichkeit sind allerdings deutlich ausgeprägt. Zweitens sind sowohl die Herausbildung einer Weinidentität als auch die Entstehung von Unsicherheits- und Peinlichkeitsgefühlen deutlich von sozialstrukturellen Faktoren beeinflusst, insbesondere von einem gehobenen Lebensstil und der Einbettung in soziale Netzwerke mit Weininteresse bestimmt. Für Rössel/Pape ist die Herausbildung einer Weinidentität Resultat einer spezifischen Lebensführung, die typisch für Personen in den gehobenen Position in der Sozialstruktur ist. Wie Kommentar und Diskussion gezeigt haben, hätten Rössel und Pape den Weinkonsum mit Bezug auf die Untersuchung der Milieus aus Gerhard Schulzes „Erlebnisgesellschaft“ (1992) konsistenter und überzeugender darstellen können, da sich mit der Zugehörigkeit zu Milieus erklären lässt, wie individueller Geschmack und individuelle Wahl bei Produktentscheidungen für ästhetische Güter überhaupt bildet und welchem Produkt in welchem sachlichen, sozialen und zeitlichen Kontext Distinktionspotenzial zugeschrieben werden kann und für welche Milieus das Moment der Distinktion im Konsum überhaupt relevant ist. Dann würde sich vermutlich zeigen, dass ‚Distinktion per Wein‘ im Niveaumilieu, im Integrationsmilieu und in Teilen des Selbstverwirklichungsmilieus funktioniert.

Im letzten Beitrag knüpften Uwe Schimank und Ute Volkmann an ihre Ökonomisierungsthese aus früheren Vorträgen an und diskutierten  „Gesellschaftliche Inklusion durch Konsum“. Sie beginnen mit drei Beispielen, in denen der Zugang zu Gütern, Wissensbeständen und Diensten plötzlich an einen Zahlungsvorgang gebunden ist, wo das zuvor nicht der Fall war: Ein Leser leiht sich den Roman nicht mehr in der Bibliothek aus, sondern kauft ihn im Buchhandel. Ein Studierender muss € 500 Studiengebühren pro Semester an zahlen, nachdem Generationen Studierender vor ihm Zugang zum Studium auch bei Zahlung symbolischer Beträge hatten. Ein Patient geht davon aus, dass bei ärztlicher Behandlung das Interesse des Arztes allein auf seine Heilung gerichtet ist. Als er den Eindruck bekommt, dass es dem Arzt eher um Gewinnmaximierung geht, beschleicht den Kranken zusätzliches Unwohlsein. Schimank und Volkmann argumentieren, dass sich die „Konsumzone“ weit über den Kauf von Brötchen und Autos hinaus auch für den Zugang zu Wissens- und Kulturgütern (Buch), für tertiäre Bildung (Dienstleistung) und ärztliche Heilung bzw. Pflege (Sozialleistung) gilt. Zunehmend ist der Empfang wirtschaftlicher Leistung mit einem Zahlungsvorgang begleitet, die wirtschaftliche Leistung ist mit einem Preis verknüpft, der Markt ist der Ort des Leistungsempfangs, und mit dem Leistungsempfang ist das Gut ein privates Gut. Der Empfang von Leistungen in den verschiedenen funktionalen Teilsystemen der Gesellschaft wird in wachsendem Umfang marktlichen Verhältnissen unterworfen und erfolgt zunehmend konsumförmig. Die Menschen können die Erwartung eines Leistungsempfangs jenseits des marktförmigen Konsums als Lebenslüge aufrechterhalten; sie können die „Ausweitung der Konsumzone“ als Errungenschaft feiern; oder sie können die konsumförmigen Praktiken des Leistungsempfangs meiden oder dagegen rebellieren. Anhand der vier funktionalen Teilsysteme Intimbeziehungen, Kunst, Journalismus und Bildung argumentieren Schimank/Volkmann, dass der Zugang marktlichen Mechanismen unterworfen wird. In Intimbeziehungen Leistungs­pro­duk­tion und Empfang dyadisch reziprok erbracht. Schimank/Volkmann stellen mit Orientierung an der Schriftstellerin Illouz heraus, dass Paare die romantische Liebe mit Konsumakten realisieren. In den oberen sozialen Schichten werde ein „antikonsumisches Ethos“ gepflegt, in den unteren Schichten dominiert hingegen eine Konsumakzeptanz. In der Kunst befindet sich ernste Kunst am „autonomen Pol“, unterhaltende Kunst am „weltlichen Pol“. Das Kunstpublikum der ernsten Kunst ist ein bildungsbürgerliches Publikum, das ein antikonsumistisches Ethos pflegt, einem Kunstpublikum aus den unteren Schichten mit deutlich ausgeprägter Konsumakzeptanz gegenüber. Im Journalismus bildet der Qualitätsjournalismus den „autonomen Pol“ als Ideal professionellen Handelns, während der Boulevardjournalismus am „weltlichen Pol“ steht. Dem Publikum attestieren Schimank/Volkmann generelle Konsumakzeptanz, im „free content“ des Internet sehen sie ein Kollektivgutdilemma. Im Bildungsbereich steht die Leistungsproduktion am autonomen Pol, dem Publikum – die Studierenden – attestieren Schimank/Volkmann generell ein antikonsumistisches Ethos. In der funktional differenzierten Gesellschaft sind Konsumbeziehungen längst nicht nur auf das Wirtschaftssystem selbst beschränkt, sondern erstrecken sich weit darüber hinaus auch auf Intimbeziehungen, Kunst, Journalismus und Bildung; somit bildet Konsum ein bedeutenden Mechanismus der Inklusion. In der Diskussion wurde kritisch hinterfragt, was das Alleinstellungsmerkmal von Intimbeziehungen gegenüber allen anderen gesellschaftlichen Teilsystemen sei und worin die soziale Rolle und theoretische Relevanz des Publikums in den Funktionssystemen von Kunst, Journalismus und Bildung besteht. M.E. hätten die Autoren ihr Argument stärker machen können, indem sie neben der Seite der Inklusion auch die Seite der Exklusion, also den Ausschluss von Teilen der Bevölkerung durch den dargestellten Prozess berücksichtigt und gezeigt hätten, wie die Kommodifizierung auf der Seite der Exklusion wirkt. Zudem liegt die eigentliche Brisanz in der Entwicklung und Verbreitung von Chipkarten, die sowohl für Geldtransaktionen als auch für die Regelung von Einschluss und Ausschluss von Akteuren zum Zugang zu Gütern und Diensten eingesetzt werden und wiederum eigene Märkte (Evaluation, Tausch und Handel personenbezogener Daten, teils legal, teils illegal) konstituieren.

Die besten Tagungen sind die Tagungen, wo zentrale Ideen aus verschiedenen Forschungsfeldern oder Theorierichtungen koordiniert zusammen gefügt und neue Perspektiven erarbeitet werden. Diese Tagung darf sich hier einreihen, finde ich. Nicht nur waren die Papiere frühzeitig zum Download vorbereitet, nicht nur folgte auf jeden Vortrag ein kritischer Kommentar, sondern es gab viel Raum für Diskussion und sehr offene, konstruktive Diskussionen nach jedem Beitrag in einer informellen Atmosphäre. Bei aller Freude auch an Konferenzen im großen Rahmen besticht eine kleine Tagung mit nur einem Slot in einem einzigen Raum damit, dass man jedem Sprecher zuhört. Besonders gut hat mir an der äußeren Form gefallen, dass die Veranstaltung durch einen Einleitungsteil eröffnet und durch ein ein Fazit von Kai Uwe Hellmann (AG Konsumsoziologie) und Jens Beckert (Sektion Wirtschaftssoziologie) mit anschließender Diskussion geschlossen wurde; durch diesen Rahmen war die Tagung mehr als eine bloße Aneinanderreihung von Vorträgen. Inhaltlich hat die Tagung gezeigt, dass Wirtschafts- und Konsumsoziologie einander durch die intensive Beschäftigung mit Märkten und Preisen einerseits und mit dem Zustandekommen von Konsum, Imagination im Gegensatz zu Kalkulation im Unternehmertum und der Konstitution von Wert sowie der Berücksichtigung historischer Prozesse andererseits bei der Theoriebildung enorm bereichern können.

 

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