Heranwachsen mit dem Social Web. Studie zur Rolle von Web 2.0 Angeboten von Jugendlichen

Heranwachsen ist gefährlich. Vor wenigen Tagen erst hörte ich von einem Fall, wo ein Düsseldorfer Schüler während der Schulzeit unter Androhung von Gewalt zum Verlassen des Schulgeländes veranlasst worden war. Die Täter waren eine Gruppe Fremder, und sein Schulkamerad, der ihm zu Hilfe eilte, entkam der Situation auch nicht. Die Schule benachrichtigte die Eltern telefonisch mit dem Vorwurf, der Junge würde den Unterricht schwänzen. Etwas später rief der Junge weinend vom Mobiltelefon zuhause an und berichtete, wie sein Schulkamerad und er selbst unter Gewalteinwirkung und Androhung von noch mehr Gewalt in einer S-Bahn gelandet waren, die aus der Stadt hinaus fuhr. Ohne das Einwirken der Eltern hätten die beiden Jungs Schule, Verkehrsbetriebe und Polizei gegen sich gehabt. Man hätte ihnen nicht geglaubt und sie in ihrer Not allein gelassen. Nur mit Hilfe der Eltern und nach ärztlicher Untersuchung wurde den Betroffenen Gehör geschenkt. Als „Gefährdungsraum“ für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene wird häufig auch das Internet diskutiert. Zwar streitet niemand ab, dass es Gefährdungen für Jugendliche im Netz gibt, doch bleibt bei der auf Risiken gerichteten Sicht des Internet erstens außer acht, dass Jugendliche wie im Beispiel auch im „echten Leben“ Gefährdungen ausgesetzt sind, zweitens, dass die Welt der Erwachsenen daran nicht unbeteiligt ist, und drittens dass das Internet im Gegensatz zu seinem Ruf auch Raum der Freiheit und Persönlichkeitsentfaltung für Jugendliche und junge Erwachsene ist.

Auf das Spannungsfeld von Freiheit und Gefährdung trifft eine Studie des Hans-Bredow-Institut für Medienforschung und der Fachbereich Kommunikationswissenschaften der Universität Salzburg. Uwe Hasebrink, Ingrid Paus-Hasebrink und Jan Schmidt (Twitter) haben die Studie im Auftrag der Landesanstalt für Medien NRW eine empirische Studie zum Thema „Heranwachsen mit dem Social Web“ durchgeführt. [Darstellung Jan Schmidt, Darstellung „Der Freitag„, Darstellung LFR Düsseldorf; Kurzzusammenfassung]

Die Leitfragen lauteten: Wodurch ist das Social Web als Kommunikationsdienst charakterisiert? Welche Anwendungsgattungen gibt es? Welche technischen Funktionalitäten und welche Verwendungsweisen bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen sind damit verknüpft? Welche Bedeutung messen Jugendliche und junge Erwachsene den Social Web Anwendungen bei? Wie nutzen bzw. gestalten Heranwachsende und junge Erwachsene Medien im allgemeinen, und welchen Platz hat das Social Web in ihrem Medienrepertoire? Wertvoll wird die Studie insbesondere auch durch eine breite Datenbasis, da sie sowohl quantitative als auch qualitative empirische Methoden zugrunde legt: (1) eine Analyse des Social Web als Kommunikationsinfrastruktur anhand einer Bestimmung der Gattungen, Funktionalitäten und Fallstudien der bei Jugendlichen im Fokus stehenden Plattformen, (2) einer qualitativen Studie mit Gruppendiskussionen und Einzelfallinterviews mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen zwischen 12 und 24 Jahren, (3) einer telefonischen Repräsentativbefragung (n=650) unter Online-Nutzern zwischen 12 und 24 Jahren zur allgemeinen Internetnutzung und der Nutzung der Social Web Angebote im Besonderen.

In der öffentlichen Diskussion hat sich das Social Web als Chiffre für das gegenwärtige Mitmach-Netz etabliert und umfasst vielfältige Angebotsgattungen wie SNS (SchülerVZ, StudiVZ, Facebook, YouTube), Personal Publishing (z.B. Weblogs, Twitter), Instant Messaging (z.B. ICQ), Diensten für Informationsmanagement (RSS, Bookmarking & Tagging); besondere Aufmerksamkeit hat das Forschungsteam Profilseiten der Nutzer auf SNS gewidmet, wo vielfältige – auch persönliche Informationen – publiziert werden, und Publishing-Diensten, wo man Inhalte aller Art (Texte, Hörstücke, Fotos, Videos etc.) zugänglich machen und weiter verbreiten kann, ohne dass ein Gatekeeping durch professionelle Experten oder Verlagsgesellschaften stattfindet; Kritiker wenden ein, das Internet entwerte professionelle Leistungen und soziale Funktionen von Experten und führe zu digitalem Exhibitionismus. Eines der ersten Ergebnisse der Studie war, dass Social Web aus der Perspektive der Heranwachsenden kein vom übrigen Internet und der übrigen Medienlandschaft abgegrenzter Raum ist, sondern vielmehr ein im Alltag breit genutzter Raum: Mehr als 85 Prozent der Befragten nutzen das Internet mehr als einmal pro Woche, häufig mehrere Stunden täglich. 69 Prozent nutzen Instant Messaging, ebensoviele Netzwerkplattformen. Über 50 Prozent nennen bei Frage nach ihrer Lieblingswebseite spontan das SchülerVZ, über 40 Prozent YouTube. Überhaupt sind YouTube und Wikipedia die meistgenutzten Angebote. Das Forscherteam hat nach Art um Umfang der Nutzung folgende Gruppierungen ermittelt: Nicht-Nutzer (11 Prozent), Randnutzer ohne eigenes Profil (23 Prozent), routinierte Kontaktpfleger (16 Prozent), außenorientierte Selbstdarsteller (16 Prozent), wenig interessierte Routinenutzer (10 Prozent), zurückhaltende Freundschaftsorientierte (9 Prozent), intensive Netzwerker (9 Prozent), reflektierte Gelegenheitsnutzer (6 Prozent) und experimentelle Selbstdarsteller (3 Prozent).

Die Beschreibung der Social Web Nutzung durch Jugendliche gab Anlass zu einer vertieften inhaltlichen Auseinandersetzung mit qualitativ empirischer Methodologie (Gruppendiskussion, Interview), die sechs Handlungstypen zutage förderte: (1) kreativ-intensive Social Web-Nutzung, (2) intensive, initiative, kritisch-konventionelle Nutzung, (3) intensive, kommunikativ-inititiative Umgang mit dem Social Web, (4) Dabeisein-ist-alles, (5) Kritisch-Selektive Nutzung des Social Web und schließlich (6) Social-Web-zur-Kompensiation-sozialer-Probleme. Erwartungsgemäß weisen die auf Basis der qualitativ empirischen Auswertung gebildeten Nutzertypen Zusammenhänge zu Interessen (eher Musik, eher Information, eher Spiele), formaler Bildung (Schultyp/angestrebter oder erreichter höchster Schulabschluss) und zum Geschlecht der Jugendlichen auf; es gibt einen kleinen Kreis kompetent kreativ gestaltender und experimentierfreudiger Nutzer, und bei den Nutzertypen in den Nutzergruppen bleiben Jungs und Mädels von wenigen Ausnahmen abgesehen unter sich und gehen den für ihr Milieu typischen Aktivitäten nach. Wer auch außerhalb des Internet nach Informationen dürstet oder kreativ-gestaltend unterwegs ist, befasst sich auch online mit informationsintensiven Anwendungen wie Weblogs oder der Wikipedia, wer auf Freundschaften fokussiert ist, tummelt sich auf Freundschafts-/Kontaktbörsen und beim Austausch von Nachrichten, und wer sich für Spiele interessiert, den trifft man online wenig überraschend in der Gamer-Szene.

Im besonders interessanten Schlussabschnitt identifiziert das Forscherteam drei Funktionen, welche das Social Web für Jugendliche und junge Erwachsene – gewiss nicht exklusiv, aber durchaus prominent – erbringt:

(1) Selbstauseinandersetzung bzw. der Vorstellung der eigenen Person. Diese findet auf Online-Plattformen wie SchülerVZ, StudiVZ, sowie mit Abstrichen MySpace, Netlog und Facebook statt, ebenso auf Video-, Musik- und Fotoplattformen. Der Akteur ist Darsteller, der mit Text, Bild, Foto, Podcast, Video etc. ein Image der eigenen Person aufbaut. Dabei ist der Akteur mit dem Dilemma konfrontiert, dass für eine erfolgreiche Darstellung viel Information bereit gestellt werden muss, sich nicht steuern lässt, welcher potenzielle Besucher eine bestimmte Information zu Gesicht bekommt und sich einmal eingefügte Inhalte nicht mehr ohne Weiteres entfernen lassen. (2) Sozialauseinandersetzung. Entgegen dem Image des sozial isolierten Online-Nutzers gilt inzwischen eher das Gegenteil. Sozial isoliert ist, wer nicht am Online-Leben teilnimmt und online mit Freunden, Kameraden und entfernten Kontakten verknüpft ist. Zum Beziehungsmanagement zählen neben der netzwerkförmigen Verknüpfung vor allem der Austausch direkter Nachrichten, bei denen SNS und Instant Messaging im Vordergrund stehen. Man positioniert sich in Freundes- und Kontaktnetzwerken, erweitern ihre Partizipationschancen, erhöht das eigene Sozialkapital, und zugleich lässt das Social Web lässt keine Alternative, Aspekte des Beziehungsnetzwerks online abzubilden. Beziehungsmanagement im Social Web ist eine zentrale Schlüsselqualifikation für das Leben in einer Gesellschaft, deren Leitbild vernetzte Individualität ist. (3) Sachauseinandersetzung. Im Jugend- und Erwachsenenalter ist die Erschließung von Themen, Fragen, Interessen, die Ausübung von Aktivitäten, die Entwicklung von Kompetenzen. Für Jugendliche ist besonders wichtig zu wissen, was für ihre Peers, für ihre Altersgruppe relevant ist, was wichtig und spannend oder eben unspannend ist, und es geht darum, Gleichgesinnte zu finden, die eigene Interessen teilen. Der Schwerpunkt der Online-Nutzung mit dem Schwerpunkt Beziehungsmanagement liegt bei den 15-17 Jährigen, in den Jahren danach verschieben sich die Interessen hin zu eher informationslastigen Nutzungsweisen, bei denen journalistische Medien im Fokus stehen. Der Intereressensschwerpunkt bei der Sachauseinandersetzung durch Jugendliche wird durch zwei Online-Angebote dominiert: Die Suchmaschine Google und die Online-Enzyklopädie Wikipedia. Das sind zwar völlig verschiedene Informationsdienste, doch verbindet beide die Möglichkeit zu einem Stichwort ein großes Angebot an Informationen und Links auf einen Blick zu erhalten und sich einen Sachverhalt rasch überblickhaft zu erschließen. Nachgeordnet sind spezifische Tools im Umgang mit Informationen wie z.B. Filter, Bookmarking, Tagging und die Bewertung von Beiträgen, also Möglichkeiten, die ein aktives Mitmachen oder eine starke Meinung zu einem bestimmten Beitrag voraussetzen.

Ein Erkenntnisinteresse hat die Studie auch auf negative Erfahrungen Jugendlicher mit dem Social Web gerichtet: Fast alle Befragten haben in irgendeiner Form Bekanntschaft mit Online-Mobbing gemacht – speziell im Kontext von „blöden“ bzw. „peinlichen“ Fotos oder gar von Schüler- und Lehrhassgruppen auf der Plattform SchülerVZ, Mädchen aus bildungsferneren Schichten berichteten häufiger als andere davon, schon des Öfteren „angemacht“ worden zu sein. Das Forscherteam berichtet weiter, dass die Befragten durchgehend über ein rudimentäres Verständnis von sozialer Erwünschtheit verfügen, was man online sagen darf oder verschweigen muss und dass sie positive und negative Erfahrungen reflektieren. Erwartungen Jugendlicher richten sich an die Institution Schule und an das Elternhaus, und die Kompetenzen der Eltern, ihren Kindern Kompetenzen auf dem Weg ins Netz mitzugeben, unterscheiden sich nach formaler Bildung der Eltern erheblich. In Einzelfällen berichten jüngere Befragte gar davon, illegale oder riskante Online-Aktivitäten bei ihren Vätern abgeschaut zu haben. Das Internet für Jugendliche ist nicht gefährlicher und nicht weniger gefährlich als die Welt im Beispiel oben; und die Kinder brauchen Leitung und Unterstützung durch Schule und Elternhaus. Gewiss werde ich mir die vollständige Studie möglichst bald durchlesen. Mein Eindruck nach der Projektpräsentation ist sehr positiv. Nicht, weil die Befunde völlig überraschend wären, sondern vielmehr, weil die Studie ein differenziertes, durch eine breite Datenbasis gestütztes Bild der Internetnutzung durch Heranwachsende zeichnet, weil sie Akteure, soziale Netzwerke und Institutionen verknüpft, und natürlich weil sie dem Bild vom Internet als Gefährdungsraum das Bild vom Internet als zentrale Infrastruktur der Information und sozialen Partizipation und als Handlungsraum der freien Persönlichkeitsentfaltung entgegensetzt.

P.S. Und die Befunde – z.B. die Nutzungs- und Handlungstypen – entgegen ein paar spöttischen Randbemerkungen aus der Twitterzone – auch nicht „trivial“, denn schließlich hätte das Forscherteam die Daten aus ihrer quantitativen und qualitativen Datenerhebung auch auch anders zu Kategorien und Handlungstypen zusammenfassen können, das Interessante ist eben immer die Begründung.

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