Bericht re:publica09

Ein bedauerliches Ritual scheint Fuß zu greifen in Deutschlands Medienlandschaft. Deutschlands größtes Blogger-Treffen widmet sich dem Verhältnis von digitaler Kultur und Gegenwartsgesellschaft und geht Fragen des Internet bewirkten gesellschaftlichen Wandels nach – 1400 Teilnehmer, drei Tage, zwei Konferenzstätten, das Motto: „Shift happens!„. Bekannte Persönlichkeiten wie Lawrence Lessig, Jimmy Wales, Peter Glaser, Peter Schaar tragen vor. In diversen Podiumsdiskussionen wird die Relevanz von Blogosphäre und Social Media erörtert. Und die Beiträge der etablierten Medien quittieren die re:publica09 mit einer Abfälligkeit und Ignoranz, als hätten ihre Autoren andere Veranstaltungen besucht: „Ich seh nur Pfeifen“ (FAZ), „Nerds tanzen nicht“ (Netzzeitung). [Dazu auch die lesenswerten Kommentare von Thomas Knüwer vom Handelsblatt und von Felix Schwenzel von Wirres.net]. Meine re:publica09 war eine vielseitige und ermutigende Konferenz, im übrigen auch ein Expertentreffen von Netzbewohnern, die alle bereitwillig einen Teil ihrer sehr umfangreichen Online-Erfahrungen mitgeteilt haben. Dass auch Elemente von Party dabei waren und der informelle Austausch im wunderschönen Innenhof der Kalkscheune breiten Raum einnahm, war Teil des Veranstaltungskonzepts und eine klare Stärke. Klar, dass ich jede Menge Inspiration von der re:publica09 mit heim genommen habe [Kleines Fotoalbum].

Zu meinen Highlights gehörte insbesondere die politischen Aktivisten und politisch aktiven Teilnehmer, die das Netz äußerst kreativ für ihre Projekte und Anliegen nutzen – z.B. Ersra’a Al Shafei. Ersra’a Al Shafei ist Geschäftsführerin von MideastYouth, einem preisgekrönten unabhängigen Netzwerk, dessen Ziel es ist, junge Menschen zu ermutigen und unterstützen, die Chancen freier Meinungsäusserung gegen teils totalitäre Regime des nahen Ostens wahr zu nehmen. Mideastyouth tritt für die hierzulande als selbstverständlich erachteten Bürgerrechte der Freiheit und Gleichheit sowie insbesondere für die Rechte der Frauen ein. Ein tolles Projekt.

Da waren außerdem waren z.B. Lisa Rosa (Lehrerin), Timo Heuer (Schüler) und Hugelgupf (Schüler) mit ihrer Podiumsdiskussion über das Aufwachsen im Netz und die Nex(x)t Generation: eine netzversierte Lehrerin, die in Weiterbildungen ihren Lehrerkollegen einen Zugang zum Internet eröffnet, und zwei Schüler, die sich selbständig die Welt des Internet erschlossen haben und selbst aktiv bloggen, sogar über hochsensible Fragen und Themen. Das bezeichnende Moment der Diskussion war Übereinstimmung der Diskutanten in dem Punkt, dass die formale Organisation Schule das Internetengagement weder von Schülern, noch von Lehrern unterstützt, sondern im Gegenteil das Internet als Störfaktor identifiziert hat und sich selbst auf die in Lehrplänen geregelte dosierte Verabreichung von Schulstoff nach dem Eimer-Modell des Lernens beschränkt. Seit den späten 1990er Jahren scheint sich die ablehnende Haltung der Schulen in Bezug auf das Netz sogar noch weiter verstetigt und verfestigt zu haben. Die Schüler hingegen sind massenhaft auf Plattformen wie SchülerVZ unterwegs, ein paar besonders versierte Schüler führen eigene Weblogs, manch einer trägt zum Wissensfundus der Wikipedia dabei, aber Anerkennung bei Mitschülern und Lehrerkollegen erfahren sie dafür nicht. Im Gegenteil, Lehrerin und Schüler sind im Schulalltag mit Unkenntnis, Misstrauen und Ablehnung in Kollegenkreis und Klassenverband konfrontiert. Eine Vorbereitung auf Online-Biografien mit vielen erfreulichen Erfahrungen durch die Schule ist komplett Fehlanzeige. Aber wie sollen Lehrer, die selbst keine Online-Biografie haben, ihre Schüler mit den Kompetenzen, Erfahrungen und Reflexionsvermögen ausstatten, die gute Voraussetzungen für erfreuliche Online-Biografien in einer digitalen Gesellschaft schaffen?! Schüler suchen und finden ihre Vorbilder selbst, die wenigsten ihrer Lehrer scheinen die Vorbildrolle prädestiniert zu sein. Christiane Link, meine Partnerin des gemeinsamen Panels „Digitale Identität“, Journalistin, Betreiberin des Weblogs „Behindertenparkplatz“ führt seit 2004 ein Weblog über ihr Leben als Journalistin im Rollstuhl und allerlei denkwürdige Begleiterscheinungen, die ihr im Alltag so widerfahren. Medienexpertise und Erfahrungswissen erfahrener Blogger wie z.B. Christiane Link ist für Online-Neulinge jedes Alters von immenser praktischer Relevanz, und mit ihrer beeindruckenden Offenheit kann sie Vorbild für Online-Neulinge und Spät-Berufene sein.

Mein Vortrag „Das digitale Ich“ setzte bei der Beobachtung an, dass das Ich in sozialwissenschaftlichen Ansätzen durchgehend eine soziale Seite und eine kreative bzw. impulsive individuelle Seite hat. Das „Selbst“ bildet sich als Ergebnis der Leistung des „Managens“ von Beziehungen, Rollen, Funktionen und Erwartungen einerseits und den kreativen Impulsen des Einzelnen andererseits. Der Einzelne ist gefordert, ein kohärentes Bild von sich abzugeben, um nicht als inkompetent, bösartig oder unaufrichtig zu erscheinen.Jeder Einzelne vollbringt im Alltag eine beachtliche Leistung der „Selbst-Organisation“, um trotz steigender Komplexität der Situation und vielfältigen sozialen Kontexten handlungsfähig zu bleiben; diese Anforderungen der „Selbst-Organisation“ steigen sogar im Lebensverlauf an und können ein hochprofessionelles Niveau erreichen. Nicht anders verhält es sich beim Thema Online-Identität. Online-Identität beschränkt sich nicht auf einzelne Identitätsschnipsel (z.B. Weblogeinträge, Fotos, Videos, Kommentare, Mitteilungen, digitale Fußspuren). Vielmehr schließt Online-Identität alle Online-Aktivitäten ein, aus denen sich eine Online-Biografie rekonstruieren lässt; selbst absichtlich unterlassene bzw. ex post unsichtbar gemachte Äußerungen machen einen Teil der Online-Identität aus. Zum Aufbau einer Online-Identität gehören Webauftritt, oft mit eingebundenen externen Diensten, die einer Planung und Gestaltung bedürfen wie ein Theaterauftritt mit Bühne, Theaterstück, Rollen, Regie & Produktion, Darsteller(n), Ensemble, Chor und Publikum. Unterschiede zur Selbstdarstellung offline sind erstens die Kombination von Content, Code und Metadaten, zweitens die Tatsache, dass unabsichtlich hinterlassene Fußspuren langfristig für Dritte auffindbar bleiben. Online-Identität erfordert also kreative Techniken der Selbstdarstellung und permanente soziale Praxis. Bricht die kohärente Darstellung zusammen oder verstrickt sich der Akteur in Widersprüche, bricht das digitale Ich zusammen. Ich möchte hervorheben, dass den Aufbau einer erfolgreichen Online-Identität als illusorisch erachte, falls sich der Akteur dem „Glaubenssprung“ (Vertrauen) verschließt, dass seine Online-Identität zu mehr Autonomie, mehr Authentizität, zu vermehrten sozialen Beziehungen und einer verbesserter Reputation führt. Die Twitterlesung war aufgrund ihres Wortwitzes und Szenehumors nicht nur ein Riesenspaß, sondern zugleich hervorragendes Beispiel für Selbst-Organisation der Netzwelt, da sie Maßstäbe für Qualität und den guten Ton etabliert.

In unserer Session „Shifting culture! Shifting what“ wollten Lars Alberth, Benedikt Köhler und ich mit den Teilnehmern diskutieren, was den im Titel der re:publica angesprochenen „Shift“ ausmacht, worin sich dieser Shift zeigt, was seine Folgen sind und wer die Gewinner und Verlierer sind. Benedikt Köhler hat in seinem Vortrag „Social Media ist wie da sein – The Global Village Revisited“ erläutert, wie sich der Shift durch Einbeziehung der Social Media im Alltag vollzieht, sich McLuhans These vom globalen Dorf bewahrheitet sich niemand mehr dem durch das Internet und die Social Media vorangetriebenen Shift entziehen kann. Lars Alberth hat mit seinem Vortrag „Ein digitales Rom? Oder welches Kostüm trägt der kulturelle Wandel“ mit seiner kleinen Ikonographie der re:publica auf das revolutionäre Element des Shift hingewiesen und den Computer als revolutionäre Maschine diskutiert. Gern hätten wir die Session noch mit 5 Minuten Fragen und Diskussion zum Vortrag von Lars Alberth sowie zu den Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen Lars und Benedikt beendet, doch leider wurde unsere Session jäh durch die Nachfolger beendet. Ich möchte Lars und Benedikt von hier vielmals für ihre schönen Vorträge danken.

(Fortsetzung folgt)

6 Antworten zu “Bericht re:publica09

  1. Pingback: Digitales Ich « Tara’s Weblog

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  3. Ich hatte den Titel mit den Organisatoren diskutiert. Den Untertitel der Session hatte ich nicht gewählt und hatte auch im Vorfeld meines Vortrages explizit angekündigt, dass ich soziologisch über Online-Identität spreche, und habe dementsprechend über das „Digitale Ich“ in Verbindung mit Vertrauen gesprochen, das ich zwingend als Voraussetzung für den Aufbau einer erfolgreichen Online-Identität erachte. Das Konzept des „citoyen“, der aktiv am Netzleben teilnimmt und durch seine Aktivitäten mit zur Vertrauenswürdigkeit des Internet beiträgt, verbindet meinen Beitrag jedoch auch mit dem Untertitel der Session. Ich darf außerdem erwähnen, dass ich mir von den Teilnehmern ein bisschen mehr Bereitschaft zum Zuhören erhofft hätte. Z.T. waren das Verhalten des Publikums und auch die Lautstärke im Raum sehr störend. Dennoch waren andere Teilnehmer dem Vortrag gefolgt und haben sehr gute Fragen im Anschluss an den Vortrag gestellt, vielen Dank dafür.

  4. Ah. Herzlichen Dank auch Dir für die großartige Moderation und die Arbeit, die mit reingesteckt hast.

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